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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt
Autoren: China Miéville
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etwas über sie. Okay, schlechtes Beispiel, weil ich wetten möchte, dass sie eine von euch ist, eine Agentin, aber ihr versteht, was ich sagen will. Ich stelle keine Fragen.«
    »Also gut. Aber womit hat sie sich befasst? Byela Mar. Weshalb haben Sie sie weggeschickt?«
    »Hm, wie soll ich das erklären. In unseren Kreisen ...« Ich fühlte, dass Corwi sich versteifte, als wollte sie ihm ins Wort fallen, ihn drängen, endlich zum Thema zu kommen. Verstohlen stieß ich sie an: Nein, warte, lass ihn machen.
    »Wenn man tut, was wir tun, vermeidet man ... na ja, man weiß, wenn man aus der Reihe tanzt, ist man in ernsthaften Schwierigkeiten. Zum Beispiel rückt ihr einem auf die Bude. Mit einem unbedachten Telefonanruf können wir unsere Genosse in die Scheiße reiten, in Ul Qoma, mit den Bullen drüben. Und es kann noch Schlimmeres passieren.« Er schaute uns an. »Sie durfte nicht bleiben. Früher oder später hätten wir Ahndung auf dem Hals gehabt. Oder so was.
    Sie interessierte sich für ... nein, Interesse kann man es nicht nennen, sie war besessen. Von Orciny.«
    Er fixierte mich, deshalb tat ich nichts, verengte nur die Augen. Doch ich war überrascht.
    Corwi zeigte keine Regung, daraus folgerte ich, dass sie nicht wusste, was Orciny war. Ich wollte nicht anfangen zu erklären und sie damit bloßstellen, doch während ich noch zögerte, nahm Drodin mir die Entscheidung ab. Es war ein Märchen. Sagte er.
    »Orciny ist die dritte Stadt. Es liegt zwischen den beiden anderen. In den Dissensi, umstrittenen Zonen, Gegenden, von denen Besźel glaubt, sie gehörten Ul Qoma und umgekehrt. Als die Ur-Gemeinschaft sich teilte, zerfiel sie nicht in zwei Teile, sondern in drei. Orciny ist die verborgene Stadt. Es ist die beherrschende Macht im Hintergrund.«
    Falls es eine Teilung gab. Dieser Ursprung war ein Schatten in der Geschichte, eine Unbekannte -Aufzeichnungen eines ganzen Jahrhunderts zerstört oder verschwunden, auf beiden Seiten. Alles hätte passiert sein können, damals. Diesem historisch gesehen kurzen Augenblick war das Chaos unserer dokumentierten Geschichte geschuldet, eine Anarchie der Chronologie, widersprüchlicher Artefakte, die Forscher sowohl entzückte als auch in Verzweiflung stürzte. Alles, was wir haben, sind Steppennomaden, dann dieses Schwarze Loch der Jahrhunderte der Sesshaftigkeit und Stadtwerdung - es gibt Filme und Bücher und Spiele basierend auf Spekulationen über diese duale Geburt (die allesamt den Stift des Zensors zucken lassen) -, dann setzt die Geschichte wieder ein und hoppla!, wir sehen Besźel und Ul Qoma. War es Schisma oder Verschmelzung?
    Als wäre das nicht mysteriös genug und als wären zwei einander überlagernde Staaten nicht ausreichend, erfanden Barden einen dritten - das fantastische Orciny. In oberen Etagen, in tunlichst nicht gesehenen römisch antikisierten Stadthäusern, in den frühesten Lehmhütten, überall in den komplex verschachtelten und vereinzelten Räumen, die ihr bei der Teilung oder Verbindung der Stämme zugefallen sind, liegt die winzige dritte Stadt Orciny eingeschmiegt, versteckt zwischen den zwei keckeren Stadtstaaten. Eine Gemeinschaft imaginärer grauer Eminenzen, Exilanten vielleicht, die eine subtile, doch absolutistische Herrschaft ausübten. Orciny war der Ort, wo die Illuminati wohnten. So muss man sich das vorstellen.
    Vor einigen Jahrzehnten noch hätte es keiner Erklärung bedurft - Geschichten über Orciny waren Teil der Kindheit, genau wie die Abenteuer von »König Shavil und dem Seeungeheuer, welches den Hafen heimsuchte«. Heutzutage haben Harry Potter und die Power Rangers ihnen den Rang abgelaufen, und nur wenige Kinder kennen noch die alten Märchen. Der Lauf der Welt.
    »Was wollen Sie damit sagen?«, unterbrach ich ihn. »Soll das heißen, Byela betrieb volkskundliche Studien? Sie sammelte altes Sagengut?« Drodin zuckte die Achseln. Er vermied es, mich anzusehen. Ich versuchte noch einmal, ihn dazu zu bringen, dass er sich deutlicher äußerte, statt nur Andeutungen zu machen. Wieder bestand seine einzige Antwort in einem Achselzucken. »Warum hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?«, fragte ich. »Was genau hat sie überhaupt hier gewollt?«
    »Ich weiß es nicht. Wir haben Literatur über das Thema. Es kommt immer wieder einmal zur Sprache. In Ul Qoma gibt es sie auch, Geschichten über Orciny. Nicht alles, was in unserer Bibliothek steht, hat nur und ausschließlich mit unserer Sache zu tun. Wir kennen unsere Geschichte,
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