Die Stahlkönige
ein Gegenstand aus Bronze, der einer Schere ähnelte. An einem Ende befanden sich ovale Öffnungen für die Hände, am anderen seltsam geformte Haken. Zwischen den Griffen hingen Sperrstangen, mit deren Hilfe man die Haken feststellen konnte, wenn sie auseinandergeklappt wurden. Bis auf die Haken und die Speerstangen waren sämtliche Oberflächen des Geräts mit einem Blattmuster verziert. Jedes Blatt war bis in die kleinste Einzelheit ausgearbeitet und mit Gold und Silber überzogen.
»Wunderschön!«, rief Morgenvogel. »Ich nehme an, es ist ein Werkzeug, aber wozu dient es? Kein einfaches Handwerksgerät ist so erlesen verziert.«
»Es stammt aus Chiwa und ist ein chirurgisches Instrument. Bei einem größeren Eingriff halten die Haken die Wundränder auf und der Arzt kann ungehindert operieren. Es wird auch bei religiösen Zeremonien benutzt, wenn die Priester einem lebendigen Opfer innere Organe entnehmen.«
»Menschenopfer?«, flüsterte sie entsetzt.
»O ja. Sie denken, nur Menschenopfer sind der Götter würdig. Anhand der Verzierungen sieht man, um welche Gottheit es sich handelt. Blätter sind dem Erdgott Ichotli geweiht.«
»Grotesk, aber aufregend«, meinte sie. Die Fingerspitzen der rechten Hand ruhten leicht auf einer gepuderten Brust. »Bei uns gibt es nicht einmal schlichte religiöse Zeremonien, und die wenigen Rituale, die vom einfachen Volk ausgeübt werden, sind langweilig. Es würde mir gefallen, so ein Opferritual zu beobachten. Wie sehr ich mich nach Abwechslung sehne!«
Anscheinend hatte Hael diese Leute richtig eingeschätzt. »Hier habe ich etwas ganz anderes«, fuhr er fort und entnahm dem zweiten Kasten eine etwa einen Fuß hohe Statue auf einem drehbaren Podest. Sie stellte eine schlanke nackte Frau dar, die auf Zehenspitzen stand und die Arme hoch über den Kopf streckte. Zwischen den Handflächen hielt sie eine Scheibe von etwa zwei Zoll Durchmesser.
»Entzückend!« rief Morgenvogel und ließ die Hand über den vergoldeten Körper gleiten. Auf den Brüsten und Hüften hielt sie kurz inne, ehe sie dem Schwung der wohlgeformten Beine folgte. »Was macht man damit?«
»Wir müssen auf den Balkon gehen. Ich glaube, das Licht reicht noch aus.«
Sie gingen hinaus und Hael stellte die Figur auf die steinerne Brüstung. Die Sonne stand tief im Westen, aber er hoffte, dass ihr Licht für die Vorführung noch ausreichte. Ein winziger Knauf ragte aus dem Podest und er zog daran. Sofort glitt ein rechteckiger Teller heraus, der auf einem Drehzapfen lag. Aus der Gürteltasche nahm Hael etwas Weihrauch, legte ihn auf den Teller, den er ein wenig verschob, und verstellte die Scheibe, bis sich der Brennpunkt dicht vor dem Weihrauch befand.
»Jetzt sieh genau hin.« Innerhalb weniger Augenblicke arbeitete sich der Brennpunkt zum Rand des Tellers vor und berührte schließlich den Weihrauch. Eine kleine Wolke duftenden Rauchs stieg empor.
»Genial!«, rief Morgenvogel. »Woher hast du das?«
»Aus Neva. Die Frau stellt die Himmelsgöttin dar und gehört zum Kult des Sonnengottes. Mit diesen Figuren verbrennen Gläubige zu bestimmten Stunden Weihrauch, ohne sich großartig anstrengen zu müssen.«
»Zauberhaft«, sagte sie. Hael hatte vermutet, dass die Figur ihr gefiel. Sie war nichts Besonderes, aber wenigstens tat sie etwas. »Ich muss auch die übrigen Waren sehen.«
»Selbstverständlich, werte Dame. Morgen bringe ich …«
»Unsinn! Meine Diener gehen zum Laden von Adlernase und holen die Sachen jetzt gleich.«
»Aber er hat schon geschlossen!«, protestierte Hael.
»Das spielt keine Rolle. Er wird wieder öffnen.« Jetzt offenbarte sich die kindische Sturheit der Adligen, die Hael nur zu gut bekannt war. »Du bist mein Gast.«
»Diese Ehre übertrifft meine kühnsten Erwartungen«, antwortete er. »Ich werde zum Gasthof gehen, um meine Habe …«
»Meine Diener holen alles«, unterbrach sie ihn und ergriff seinen Arm. »Komm mit. Ich zeige dir die Gästezimmer. Bist du sicher, dass niemand sonst deine Waren gesehen hat?«
Er wusste, was sie meinte. »Niemand von Bedeutung. Nur Adlernase und die Diener, die heute zum Laden kamen.«
»Ausgezeichnet. Du brauchst mir die anderen Sachen nicht heute Abend zeigen. Ich will sie bei Tageslicht sehen. Morgen gebe ich ein Festmahl und lade Freunde ein, die meine Vorlieben teilen. Dann führst du ihnen dein Angebot vor. Ich bitte dich aber um einen Gefallen: Ich habe die erste Wahl. Ich versichere dir, dass ich dich nicht übervorteilen
Weitere Kostenlose Bücher