Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
Divisionskommandeur Oberst Nikolai Batju am 6. September den Befehl zur unverzüglichen Dislozierung an die Stalingrader Front. [623] Die Division erreichte Stalingrad am 18. September. Zu dem Zeitpunkt hatten die Deutschen schon den strategisch wichtigen Mamajew-Hügel erobert. [624] Die Kämpfe in der Stadt hatten auch die zentrale Fährstelle am rechten Wolgaufer erreicht, so dass die Überfahrt an einer weiter nördlich gelegenen Stelle beim Werk »Roter Oktober« vorgenommen werden musste. Am 20. September wurden Batjuks Soldaten auf Lastkähne verladen und über den Fluss gebracht. »Direkt am Ufer«, erinnerte sich Batjuk im Interview, »erhielten wir unseren Auftrag und begannen zu kämpfen, noch bevor wir uns richtig orientiert hatten.«
Divisionskommandeur Nikolai Batjuk
In Stalingrad sollte ein Teil von Batjuks Leuten den hinter dem »Roten Oktober« gelegenen Mamajew-Hügel zurückerobern und ein anderer Teil der 13. Gardedivision zu Hilfe kommen, die nach dem Verlust der zentralen Fährstelle am 22. September nach Norden getrieben wurde. Der Mamajew-Hügel wurde genommen, ging aber am 28. September wieder in deutsche Hände über. Batjuks Soldaten konnten sich im Süd- und Osthang der Anhöhe einkrallen und versperrten damit den Weg zum Industriegebiet und zur Wolga. [625] Erst am 26. Januar 1943 gelang es der Roten Armee, den gesamten Hügel zurückzuerobern, der nach dem dort begraben liegenden tatarischen Heerführer Mamaj benannt ist. Auf Militärkarten des Krieges ist der Hügel als Höhe 102,0 gekennzeichet. [626]
Hauptmann Axjonow, stellvertretender Regimentskommandeur in der 284. Schützendivision, gelangte mit einer Nachschubeinheit am 30. September in die brennende Stadt. Minutiös schildert er die Kämpfe seines Regiments bei der Verteidigung des Mamajew-Hügels und ab Januar 1943 beim Angriff gegen die Deutschen und deren Vernichtung am 2. Februar. Vor dem Krieg war Axjonow Geschichtsdozent am Pädagogischen Institut in Tomsk. Besonders interessant ist, wie er sein historisches Wissen zur Mobilisierung seiner Soldaten einsetzte. Inmitten der Schlacht wurden in ihm Erinnerungen an seine Vorlesungen über die Bürgerkriegszeit und über die Kämpfe um Zarizyn – so hieß Stalingrad vor 1925 – wach. Axjonow erzählte den Soldaten seines Regiments, wie Josef Stalin vom Mamajew-Hügel aus die Verteidigung der Stadt leitete. So plastisch war seine Rede, die er in einem Regimentsunterstand am Fuße der Anhöhe hielt, dass einige Soldaten aus dem Unterstand drängten und die Schützengräben aus dem Jahr 1918 in Augenschein nehmen wollten. Seitdem sprachen Axjonows Soldaten vom Mamajew-Hügel als einem »heiligen Ort – dem Ort, an dem Stalin war«. [627] Deutlich wird in dieser Erzählung nicht nur die mobilisierende Kraft des Stalinkults, sondern auch, wie sehr der Kult um den sowjetischen Führer im Krieg sich zu einem Kult um Stalins militärischen Genius entfaltete. Stalin erscheint nicht, wie in der Vorkriegszeit, als der beste und treueste Schüler Lenins, sondern er steuerte allein die Verteidigung Russlands gegen die fremden Eindringlinge. [628] Axjonow, der im Interview auch seine Freude bekundete, dass Stalin im März 1943 in den Rang eines Marschalls der Sowjetunion erhoben wurde, war nur einer von vielen Zeitzeugen in Stalingrad, die den militärischen Stalinkult beförderten. Unter den von ihm in Stalingrad gesammelten oder selbst angefertigten Fotografien, die er nach der Schlacht der Historikerkommission zur Verfügung stellte, befanden sich mehrere Bilder, die das Gebäude zeigen, in dem während des Kampfs um Zarizyn der Stab der 10. sowjetischen Armee untergebracht war. Ein Foto zeigt in Nahaufnahme eine mit Einschusslöchern bedeckte Gedenktafel, die informiert, dass in diesem Gebäude im Jahre 1918 die Genossen Stalin und Woroschilow arbeiteten.
Axjonow erzählt plastisch und detailgenau. Seine Darstellung der Erstürmung des Mamajew-Hügels am 26. Januar hat filmische Qualität. Ebenso scharf sind seine Erinnerungen vom 30. September 1942, dem Tag, als er das brennende Stalingrad erstmals betrat, und vom 25. Februar 1943, als er nach 149 Tagen [629] fast ununterbrochener Kämpfe in Stalingrad zum ersten Mal wieder die Wolga überquerte und erstaunte, als er auf dem linken Ufer ein unversehrtes Holzhäuschen erblickte.
Gespräch mit Nikolai Nikitisch AXJONOW, Gardehauptmann des 1047. Regiments der 79. Rotbanner-Gardedivision.
Weitere Kostenlose Bücher