Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
musste daran denken, dass Genosse Stalin im Jahre 1918 den Befehl gegeben hatte, alle Wasserfahrzeuge im Stadtgebiet vom Fluss zu entfernen und nach Norden zu schaffen. Das geschah im kritischsten Moment, als die Deutschen sich der Stadt näherten und man nicht zurückweichen durfte. [640] Bei uns in Stalingrad gab es, als ich da war, keine Wasserfahrzeuge und keinen derartigen Befehl. Manchmal tauchten nachts Motorboote auf und setzten Verwundete über. Aber das war nur vor dem Eisgang so, nachher mussten Kleidung, Munition, Material, Verwundete – alles musste in den Wackelbooten transportiert werden. Ein anderes Transportmittel für die Versorgung des Regiments wäre auch sinnlos gewesen, denn selbst größere Boote wurden mit Granatwerfern und MGs beschossen, ein Lastkahn wäre unweigerlich beschädigt worden. Deshalb waren diese kleinen Boote die sichersten Transportmittel.
Der Eisgang auf der Wolga begann am 9. November und dauerte bis zum 17. Dezember. Er machte uns fix und fertig. Das war die schwerste Zeit für die Armee. Die Boote zwängten sich mit großer Mühe durch die Eisschollen hin und zurück, wurden im Eis eingeklemmt, die Leute gingen von einer Eisscholle zur anderen. Es gab Fälle, wo die Boote von der Strömung flussabwärts zum deutschen Ufer hin gerissen wurden, und dann musste man das Boot verlassen oder die Fracht rauswerfen und beidrehen. Eines unserer Boote wurde drei Kilometer an Stalingrad vorbeigetrieben, und wir suchten unsere Männer dann fünf Tage lang. Die »schöne Wolga« stellte unsere Geduld wirklich auf die Probe und ging uns sehr auf die Nerven. In der Zeit mochten wir die Wolga nicht. Morgens fragte jeder, ob die Wolga zugefroren war. Auch die Deutschen wollten, wie wir von Gefangenen erfuhren, dass die Wolga bald zufror. Sie wussten von unseren Schwierigkeiten und wollten sich den Eisgang beim Angriff zunutze machen.
Am 11. November gingen die Deutschen im Abschnitt bei der Fabrik »Metis« zum Angriff über, aber bei dem Angriff kam für die Deutschen nichts heraus. […] Ein zweiter Deutscher wurde gefangen genommen und zu uns in den Regimentsstab gebracht. Das war die erste »Zunge« für das Regiment in Stalingrad. Den verwundeten Gefreiten sollten die Soldaten auf einer Bahre tragen, doch da es November war und die Soldaten noch keine Handschuhe bekommen hatten, ließen sie die Bahre unterwegs mehrere Male fallen, um sich die Hände zu wärmen, und verletzten ihn dabei inwendig. Da das der erste gefangene Deutsche war, versuchte man, ihn wieder zu Kräften zu bringen. Krasnow, unser Arzt, mühte sich mit ihm ab, um ihn zu sich zu bringen und zu verhören. Er fühlte sich zwar besser und konnte sogar noch sagen, dass er Gefreiter des 216. Regiments war, doch mehr bekamen wir nicht aus ihm heraus, und er starb an Ort und Stelle. Der zweite Gefangene erzählte mehr. Wir erfuhren, dass die Deutschen die 295. Division vor unserer Division in Stellung gebracht hatten. Der Gefangene benahm sich sehr frech und herausfordernd. Er erklärte unverblümt, Mitglied der faschistischen Partei zu sein. Wir schickten ihn in den Armeestab, und von dort wurde er zum Frontstab geschickt. Er fühlte sich noch als Sieger, und ihm war noch keinerlei Niedergeschlagenheit anzumerken. Er erzählte, dass die Deutschen zu diesem Zeitpunkt Probleme mit der Kleidung hätten. Wir hatten Ende November schon unsere Winteruniformen bekommen, und die Deutschen bekamen ihre bis zum Ende der Schlacht um Stalingrad nicht, hofften aber die ganze Zeit darauf. […]
Eine wichtige Rolle bei der aktiven Verteidigung Stalingrads spielten die Scharfschützen des Regiments. Im Regiment, das von Gardeoberstleutnant Meteljow kommandiert wurde, tauchten die Scharfschützen in den Tagen der heftigsten Kämpfe um Stalingrad auf, d.h. im Oktober. Pioniere der Scharfschützenbewegung im Regiment waren Alexander Kalentjew aus Sibirien und der Matrose Wassili Saizew aus dem Ural, heute Held der Sowjetunion. Insgesamt hatten wir 48 Scharfschützen im Regiment. Während der Kämpfe in den Straßen Stalingrads und am Mamajew-Hügel liquidierten sie 1278 Deutsche. Unter den besten Scharfschützen des Regiments nahm zweifellos Wassili Saizew die Führungsrolle ein. Er war ein ausgezeichneter Schütze und eignete sich rasch und vollendet die Taktik des Scharfschützen und des Einzelkämpfers an. Faktisch erfüllte er die Pflichten eines Regimentsinstrukteurs, da er in allen Einheiten des Regiments agierte. Er hatte
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