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Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)

Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)

Titel: Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Hellbeck
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sich daher nicht. Die Frage müsse vielmehr lauten: »Wann sind Sie der NS-Partei beigetreten?«
    Fast alle der nachfolgend dokumentierten Verhöre fanden zwischen dem 5. und 9. Februar 1943 im Stab der 66. Armee in der Stadt Dubowka, 50 Kilometer nördlich von Stalingrad, statt. Die verhörten Offiziere und Soldaten gaben Auskunft über die letzten Wochen und Tage im Stalingrader Kessel und über die Umstände, die zur Kapitulation ihrer Einheiten führten. Sie äußerten sich zur verbliebenen Kampfkraft der Wehrmacht und zur Stärke des russischen Gegners. Die Verhörprotokolle enthalten eine Fülle von bislang unbekannten Informationen über die letzten Tage der Schlacht von Stalingrad, etwa die unterschiedliche Art, mit der verschiedene Kommandeure (die Generäle Strecker und Arno von Lenski [739]   ) mit den Auflösungserscheinungen in den von ihnen befehligten Einheiten umgingen. Man erfährt von den horrenden Lebensbedingungen der russischen Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam und vom Schrecken, den die auf engem Raum zusammengepferchten, den sowjetischen Artillerie- und Luftangriffen ausgesetzten Soldaten der 6. Armee erlitten haben müssen.
    Wenn die Deutschen trotz Hungers, Erschöpfung und Massensterbens weiterkämpften, so schienen sie es aus einer Mischung aus Trotz, soldatischem Gehorsam und ideologischer Überzeugung zu tun. Als besonders starker Antrieb wirkte die Angst vor der russischen Gefangennahme. Hier war die sowjetische Gegenpropaganda zumindest in der ersten Phase der Einkesselung weitgehend erfolglos. Die Soldaten der Wehrmacht taten die Bilder von wohlgenährten und gutgekleideten deutschen Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft als leere Propaganda ab. In der späteren Phase bewährte sich die sowjetische Praxis, deutsche Gefangene mit Tabak und Brot versehen zu ihren Kameraden zurückzuschicken, als leibhafter Beweis dafür, dass die sowjetische Gefangenschaft nicht gleichbedeutend mit dem Tod war. Der in mehreren Verhören dokumentierte Vorfall vom deutschen Soldaten Holzapfel liest sich besonders eindrucksvoll.
    Trotz dieser interessanten Details können die Verhöre kein zuverlässiges Stimmungsbild der deutschen Armee in den letzten Tagen der Stalingrader Schlacht bieten, schon deswegen nicht, weil die Verhörsituation und die Leitfäden der sowjetischen Befrager die Aussagen der Deutschen entscheidend strukturieren. Oberleutnant Conrady, 1c-Nachrichtenoffizier bei der 389. Infanteriedivision (I. D.), brachte die Situation auf den Punkt, als er im Verhör erzählte, wie er selbst im Sommer und Herbst reihenweise gefangen genommene Sowjetsoldaten vernahm und von ihnen zu hören bekam, dass sie nur unter Gewaltandrohung ihrer Kommissare kämpften und in der Roten Armee tagelang nichts zu essen bekämen. Sein Divisionskommandeur bezeichnete die von Conrady auf der Grundlage der Verhöre angefertigten Stimmungsberichte als wertloses Geschwätz. Der heftige sowjetische Widerstand, auf den die 389. I. D. in Stalingrad traf, strafte die von den gefangenen Rotarmisten bezeugten Stimmungen Lügen. Somit steht zu vermuten, dass alle Gefangenen, ob Rotarmisten in deutschem Gewahrsam oder Deutsche in sowjetischem Gewahrsam, den verhörenden Offizieren zumindest teilweise nach dem Mund redeten.

    Um so schwerer wiegen vor diesem Hintergrund die Bekenntnisse zum Nationalsozialismus, auf die man in den Verhören immer wieder stößt. Generalstabsoffizier Hermann Lüben traute den nationalsozialistisch konditionierten deutschen Soldaten weiterhin den Sieg zu, wenngleich ihm die gefährdete »Blutreinheit« des deutschen Volks zu denken gab. An den militärischen Misserfolgen der Deutschen in Stalingrad, so Lüben, trügen die nichtarischen italienischen und rumänischen Verbündeten die Hauptschuld. Nachhaltig in Erinnerung bleibt die Äußerung von Zugführer Ernst Eichhorn (24. Panzerdivision), der sich – vielleicht zum Zweck der Anbiederung bei den Russen – überrascht über die gute Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen äußerte. Seine Männer, so Eichhorn weiter, stellten sich die Frage, warum Deutsche und Russen eigentlich gegeneinander kämpften. Im nächsten Satz – dem Schlusssatz im Verhörprotokoll – ergänzt Eichhorn, dass es für ihn und andere deutsche Offiziere klar sei, wer die Schuld am Krieg trage: die Juden, die in allen Staaten außer Deutschland die Macht ergriffen hätten. Es lag wohl jenseits von Eichhorns Vorstellungskraft, dass der ihn verhörende

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