Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
5. Februar begannen Hauptmann Sajontschkowski (siehe das Interview mit ihm, S.475ff.) und sein Kollege Major Lerenman, die von der sowjetischen 66. Armee im Nordkessel gefangen genommenen Soldaten und Offiziere zu verhören. Nach dem Krieg übergab Sajontschkowski, inzwischen an die Moskauer Staatliche Universität zurückgekehrt, wo er ab 1951 als Professor für Russische Geschichte lehrte, Dokumente zu seiner Tätigkeit an der Stalingrader Front, darunter auch Akten mit Verhörprotokollen, an das Archiv der Historikerkommission von Isaak Minz. Örtlich und zeitlich knüpfen die im Folgenden vorgestellten Dokumente fast nahtlos an die Szenen im Keller des Stalingrader Kaufhauses und im Stab von General Schumilow an. Die Verhöre lesen sich mit besonderer Spannung, nicht nur, weil sie die Stimmungen und Eindrücke einzelner, namentlich genannter deutscher Soldaten und Offiziere unmittelbar nach ihrer Gefangennahme beleuchten, sondern auch, weil sie erkennen lassen, wie die Sowjets mit den Gefangenen umgingen und welche Kenntnisse sie von ihnen zu gewinnen suchten.
Kurz nach dem Ende der Stalingrader Schlacht hielt Sajontschkowski, inzwischen zum Major befördert, vor den Mitarbeitern der Siebten Abteilung (dem militärischen Nachrichtendienst) einen Vortrag über den Zweck des »politischen Verhörs von Kriegsgefangenen« und die Art seiner Durchführung [738] . Vermutlich wurden die Siebten Abteilungen aller an der Kesselschlacht beteiligten sowjetischen Armeen im Februar und März 1943 personell aufgestockt, um des anwachsenden Gefangenenstroms Herr zu werden. Als Chefausbilder führte Sajontschkowski die neuen Mitarbeiter in ihre Aufgaben ein.
Die primäre Aufgabe des verhörenden Offiziers, schärfte er seinen Zuhörern ein, bestehe darin, den »politisch-moralischen« Zustand der Wehrmacht zu bestimmen. Wie dachten die Kriegsgefangenen über den Krieg? Glaubten sie noch an einen deutschen Sieg? Wie stand es um die Disziplin in der Truppe, und wie fest war die faschistische Ideologie innerhalb der Wehrmacht verankert? Ähnlich wie bei ihren eigenen Soldaten nahmen die politischen Offiziere der Roten Armee an, dass auch die Armee des Gegners weltanschaulich geleitet war und dass ideologische Überzeugungen und politische Indoktrination den soldatischen Kampfgeist beförderten. Das Ziel des politischen Verhörs bestand darin, Bruchstellen in der Loyalität der Soldaten zum nationalsozialistischen Herrschaftssystem freizulegen; diese Schwachstellen musste die sowjetische Feindaufklärung an der Front gezielt bearbeiten, um das politisch-moralische Gerüst des Gegners zum Einsturz zu bringen. Weil Sajontschkowski und seine Mitarbeiter insbesondere auf dem Gebiet der Feindpropaganda arbeiteten, enthielten die von ihnen erstellten Verhöre detaillierte Fragen zum Einfluss der sowjetischen Frontpropaganda auf die deutschen Soldaten. Die Sowjets wollten erfahren, welche Techniken der Beeinflussung funktionierten und wo nachgebessert werden musste. (Von mehreren Soldaten mussten sie sich anhören, dass die sowjetischen Flugblätter vor allem zu Kriegsbeginn primitiv gewesen seien und allenfalls für Belustigung gesorgt hätten. Ein Deutscher merkte auch an, dass er mit dem Begriff Faschismus nichts anzufangen wisse.)
Sajontschkowski ging in seinem Vortrag detailliert auf die Art der Durchführung des Verhörs ein. Das individuelle Gesprächsformat, bei dem nur der verhörende Offizier und der Gefangene im Raum zugegen seien, empfehle sich, denn so würde sich der gefangene Soldat eher mitteilen als in der Gegenwart seiner Kameraden oder Vorgesetzten. Grundsätzlich müsse das Verhör die Form wahren und dürfe nicht im Geist der Fraternisierung durchgeführt werden, denn das schade der »Ehre und Würde« der befragenden sowjetischen Offiziere. Nur in Ausnahmefällen, etwa bei der Befragung von hochrangigen Offizieren, die besonders wichtige Mitteilungen machen könnten, biete sich ein ungezwungener Verhörstil bei einer Tasse Tee an. Während des Gesprächs müsse der verhörende Offizier bezeugen, dass er die gegnerische Armee gut kenne. Das Einstreuen von Angaben zur Einheit des jeweiligen Gefangenen, die namentliche Erwähnung seines Divisionskommandeurs etwa, werde einen starken Eindruck erzeugen. Auch die Art der Fragestellung müsse gut überlegt werden. Die Frage, ob ein deutscher Soldat Mitglied der Nationalsozialistischen Partei sei, werde häufig keine wahrheitsgemäßen Antworten ergeben und empfehle
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