Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
mit, es werde ein »Konzert« geben. Tatsächlich begann das Konzert um 12.40 Uhr, dauerte bis 13.20 Uhr, 40 Minuten lang. Es bestand in der Artillerievorbereitung. Unsere Artillerie, die auf der anderen Wolgaseite stand, begann intensiv zu feuern. Infolge dieses massierten und sehr sachkundig auf den Feind geleiteten Artilleriefeuers kam jeder Versuch eines weiteren Angriffs seitens der Deutschen zum Erliegen. Ihre Verbindung war unterbrochen, ihre Feuermittel waren niedergehalten worden, und im Verlauf von zwei Stunden nach der Artillerievorbereitung verstummte nicht nur das Feuer der Granatwerfer, sondern sogar das der Maschinenpistolen. Echte Stille trat ein.
Major Belugin: Der 27. Oktober war ein unvergesslicher Tag. Der Feind wütete vom frühen Morgen an. Mit pausenlosem Feuer von Artillerie, Granatwerfern, Maschinengewehren, Maschinenpistolen und Gewehren, mit einem Granathagel aus der Luft übte er eine derart heftige physische und moralische Attacke auf uns aus, dass er sogar den Kampfgestähltesten aus dem inneren Gleichgewicht brachte. Die Soldaten sagten, es sei die Hölle. Ich erinnere mich an das Bild der Hölle in Dantes »Göttlicher Komödie«. In jener Hölle konnte man jede Hochzeit feiern und sich zumindest einigermaßen wohl fühlen. Hier aber, wo alle Augenblicke Granatsplitter, Steine, Sand und Erde auf unsere tiefen Splittergräben niederprasselten, wo das Getöse der explodierenden Geschosse und Minen anscheinend schon die Trommelfelle hatte platzen lassen, wo ein sekundenlang aus dem Graben herausragender Spatenstiel sofort von einer Scharfschützenkugel durchschlagen wurde – versuchen Sie da mal, den Angriff des Gegners abzuschlagen.
Da kam nun der Kulminationspunkt. Alles war mit Erde vermischt. Unsere Feuernester waren zugeschüttet, die Splittergräben eingestürzt, der Gefechtsstand war zerstört. Wir hatten ihn buchstäblich erst zwei Minuten zuvor verlassen, und in diesem Augenblick glaubten wir, die auf uns einstürzende Lawine aus feindlicher Menschenkraft und Technik würde uns zermalmen. Aber nein. Stille – das ist der strengste Befehl. Sei bereit! Jetzt, in diesem Augenblick. Bring dich unverzüglich in Ordnung, mach dich gefechtsbereit, auch wenn du schon halbtot bist und nur noch eine Hand hast, zwing sie, auf den Feind zu schießen. Bring den Ersten, der angreift, zum Stehen. Versuche, den Ersten aufzuhalten. Dein erster Schuss ermutigt die Kameraden.
Die Stille des bedingungslosen Befehls ließ die Soldaten aus den verschütteten Splittergräben hochkommen, bereitete sie auf das entscheidende Gefecht vor. Alle haben den gleichen Gedanken: Die Sache ist entschieden. »Ich werde den Feind auf meinem Abschnitt nicht durchlassen, ich kann nicht zurück. Ich habe Genosse Stalin gesagt, dass am linken Wolgaufer kein Platz für mich ist. Ich habe eigenhändig den Brief an Genossen Stalin unterschrieben, dass ich keinen Schritt zurückweichen werde und alle meine Kräfte und mein ganzes Können dem Kampf für die Heimat widmen will.« [420] So dachten viele, als sie sich schweigend darauf vorbereiteten, den Angriff abzuwehren.
Und da ging es los. Die ersten Artilleriesalven donnerten. Woher? Weshalb? Man konnte es gar nicht glauben, dass diese gewaltige Salve von der linken Seite, vom linken Wolgaufer herüberdröhnte. Danach eine zweite und eine dritte Salve, die Kanonade begann.
Generalleutnant Tschuikow, der Befehlshaber der 62. Armee, hatte die ganze Bürde auf sich genommen, die vorbereitete Attacke des Gegners abzuschlagen. Eine kluge Entscheidung! Er lenkte das gesamte Artilleriefeuer der Armee in die gegnerische Hauptstoßrichtung. Während 40 Minuten arbeiteten tausend Geschütze, und in dieser Zeitspanne triumphierten unsere Kämpfer – Vertreter des 347. Schützenregiments. Sie kamen aus ihren Splittergräben heraus, rissen die Augen auf und lächelten breit und freundlich. Allen war klar: Heute arbeitet die Artillerie für uns. In meiner Geschichte hatte ich das noch nicht erlebt, noch nie im Leben hatte ich Artilleriefeuer von so ungeheuerlicher Stärke gesehen und gehört, wie es der Befehlshaber der Armee jetzt auf den Feind lenkte. Alles ging in Flammen auf. Wolken von Rauch, Asche, Staub und Schutt hingen in der Luft, wir feierten den Sieg des heutigen Tages, doch was passierte jetzt beim Feind? Bei ihm war alles kaputt, alle Gefechtsordnungen waren zerstört, die Führung war gestört, er würde heute keinen Angriff oder Gegenangriff mehr
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