Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
Transportsituation während der Stalingrader Kämpfe stellte das Kommando unserer Armee den vorgeschobenen Verbandsplatz bereit. Er bestand aus zwei Chirurgen, einer Oberschwester und einer Schwester. Hier bekamen die Verwundeten Bluttransfusionen, wurden operiert und lagen sogar ein paar Tage in den Unterständen, dann wurden sie verlegt. Ich war dort, weil die ganze Arbeitslast auf dem Teil des Sanitätsbataillons lag, der sich in der zweiten Kolonne befand. Nie hatten wir so etwas Schweres durchgemacht wie hier, nie hatten wir so viele Verwundete gesehen.
Hier merkte ich, dass die Schwestern außerdem noch freundlich sein müssen, fröhlich sein müssen. Die Verwundeten schauen einen immerzu an. Während eines Bombenangriffs schauen dich die Verwundeten an, und wie du dich verhältst, so verhalten sie sich selbst. Ich erinnere mich an einen Fall, als wir bombardiert wurden, wir versorgten die Verwundeten nur, sie blieben auf dem Tisch liegen. Das war bei Kiew. Ich musste mehrere Male bei den Verwundeten bleiben. Im Zelt der DPM [Divisionsstelle für ärztliche Hilfe] war der Operationsraum untergebracht. Es flogen sehr viele Flugzeuge über uns hinweg. Der Chirurg hatte seine Arbeit getan und ging hinaus, die sechs Verwundeten mussten vom Tisch genommen werden. Da fielen die Bomben. Ein Mädchen und ich blieben bei ihnen, sie schauten uns an und sagten: »Geht, Schwestern, bringt euch in Sicherheit, wir sind sowieso verwundet.« Wir konnten nirgendwohin, und wohin soll man auch gehen, wenn dich die Verwundeten anschauen und du sie verlässt? Ich musste zweimal unter diesen Umständen bei ihnen bleiben. Ich weiß, dass der Mann verwundet ist, dass er Schmerzen hat, und er weiß, dass ihm ein weiterer Splitter noch größeren Schaden zufügen kann, aber es fällt mir gar nicht ein, den Verwundeten alleinzulassen und wegzugehen. Wie hätte ich ihm in die Augen sehen sollen, wenn ich ins Zelt zurückgekommen wäre. Ich war ja gekommen, um ihn zu retten. Ich bin nicht verheiratet. [601]
Eine Krankenschwester in Stalingrad, 1942
Also, wie ein Soldat von seinem Angriff erzählen kann, so kann ich erzählen, wie ich mich bei meiner Arbeit gefühlt habe. Es kam vor, dass man zwei Tage ununterbrochen auf den Beinen war, gar nichts mehr fühlte und nur die Verwundeten sah. Ich als Oberschwester ziehe daraus den Schluss, dass man nicht nur eine qualifizierte Feldkrankenschwester sein muss, sondern auch ein sehr guter Organisator. So kommen wir beispielsweise an einem neuen Ort an, und der Chirurg trägt mir als Oberschwester auf, dafür zu sorgen, dass alles für die Unterbringung bereit ist. Ich und die andere Oberschwester müssen alles so organisieren, dass alles für die Arbeit vorbereitet ist und die Kräfte eingeteilt sind. Ich nahm hier nur an unkomplizierten Operationen teil, da ich die ganze Zeit mit Organisationsarbeit beschäftigt war. Ich musste zusehen, dass alles da war, dass es keine Arbeitsunterbrechung gab, wenn irgendwelches Material gefehlt hätte, hätten alle Chirurgen und Schwestern nur untätig herumgestanden.
Ein Verwundeter brachte uns zum Weinen. Es war ein Unterleutnant, jung, Jahrgang 1922. Es war in Burkowka [602] , im Oktober. Er war verwundet zu uns gekommen, und man hatte ihm ein Bein amputiert. Er stammte selbst aus der Ukraine. Seine ganze Familie, Mutter, Vater, sein Mädchen, waren dort geblieben, und er wusste nicht, ob sie noch [sic, sinngemäß: am Leben] waren oder nicht. Er erzählte uns alles, brachte ständig seinen großen Hass auf den Feind zum Ausdruck, bevor er amputiert wurde, während wir uns auf die Amputation vorbereiteten. Dann lag er eine halbe Stunde auf dem Tisch. Die Operation wurde unter Narkose durchgeführt. Wir gaben ihm anschließend zu trinken und zu essen, er flehte uns an, dass wir ihn, solange wir bei Stalingrad seien, rächen sollten. Dann wurde er in ein rückwärtiges Lazarett verlegt.
Es gab nur sehr wenige Menschen, die bei einer schweren Verwundung ihre moralische Gestalt verloren und nur an sich selbst dachten. Die meisten behielten ihren Mut, vielleicht vergisst ihn mancher für einen Augenblick, während die Operation ausgeführt wird. Nach der Operation beginnt er zu erzählen, wie er verwundet wurde, drückt seinen Zorn aus und seine Begierde, sich für seine Heimat zu rächen. Es gibt Verwundete, die mit einer leichten Verletzung eingeliefert werden und sich nicht mehr als Mensch fühlen, und es gibt Schwerverwundete, die ihren Mut nicht
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