Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
erzählt freimütig von seinem lasterhaften Vorleben als junger Stadtstreicher und Dieb. Erst die Institutionen des Sowjetstaates hätten ihm dazu verholfen, zum »Menschen« zu werden. Seine Lebensgeschichte ähnelt den Biographien der jugendlichen Obdachlosen in den Schriften des ukrainischen Reformpädagogen Andrei Makarenko, die durch gezielte disziplinierende und motivierende Eingriffe den »Weg ins Leben« fanden. Andere sowjetische Institutionen aus der Vorkriegszeit, darunter sogar der NKWD, verwendeten die Metapher der »Umschmiedung« und bezeichneten damit die mitunter auch gewaltsame Umerziehung von »Klassenfeinden« zu einsichtigen Sowjetbürgern. Awerbuch hat dieses kulturelle Muster verinnerlicht; seine Erzählung macht damit auch deutlich, wie Rotarmisten noch während des Zweiten Weltkriegs in den aus der Revolutionszeit stammenden Kategorien von Transformation und Selbstwerdung dachten.
Ungewöhnlich am Gespräch mit Awerbuch ist, dass nicht ein Vertreter der Historikerkommission es führte, sondern der Politruk aus Awerbuchs Kompanie, Innokenti Gerassimow. In einem Brief vom November 1942 wandte sich Gerassimow an Kommissionsleiter Isaak Minz mit der Idee, die Geschichte seines Garderegiments zu schreiben. Minz schrieb daraufhin an die Reserve-Hauptverwaltung der Roten Armee und bat darum, Gerassimow für zwei Monate vom Dienst zu befreien, damit er der Kommission helfen könne. [605] Die Konstellation zwischen dem Politruk Gerassimow und Kompanieführer Awerbuch erinnert an das Tandem von Kommissar Furmanow und Kommandeur Tschapajew aus der Zeit des Bürgerkriegs. Wie Furmanow, der den bäuerlichen Kommandeur zu Selbstkontrolle und bewusstem Handeln verhilft, betätigt sich Gerassimow als Mentor bei Awerbuchs Entwicklung zum modellhaften Kämpfer. Mit Sicherheit war der Politruk Gerassimow an der Entscheidung beteiligt, Awerbuch nach seiner Verwundung am 28. August in die Partei aufzunehmen, ein Ereignis, das den vorläufigen Höhepunkt in Awerbuchs Erzählung von seiner Menschwerdung markiert.
Datiert auf den 17. Dezember 1942, sind die Interviews mit Awerbuch und seinem Regimentskommandeur Alexander Gerassimow (nicht zu verwechseln mit dem Politruk Innokenti Gerassimow) die ersten Protokolle zur Verteidigung von Stalingrad, die für die Kommission zur Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges angefertigt wurden. Wahrscheinlich fanden die Gespräche in Moskau statt, wohin Innokenti Gerassimow zur Abholung seines Heldenordens bestellt worden war. Die Stenographin Alexandra Schamschina war Teil der Delegation, die ab Januar in Stalingrad die Interviews mit vielen weiteren Zeitzeugen der Schlacht protokollierte.
Stenogramm
des Gesprächs mit dem Kommandeur der Pak-Kompanie des 8. Garde-Luftlanderegiments, Oberleutnant Alexander Schapsowitsch AWERBUCH
Das Gespräch führt I. P. Gerassimow, Held der Sowjetunion, vorgeschlagen für den Rotbannerorden, am 17. Dezember 1942.
Schamschina stenographiert
Geboren 1920 in Dubossary [606] in der Moldauischen SSR, später umgezogen nach Odessa, wo mein ganzes Leben verlief. Bei der Ankunft in Odessa verließ ich mit 11 Jahren meine Familie, lebte nicht bei meinen Eltern. Ich lernte obdachlose Kinder kennen und schloss Freundschaft mit ihnen. In der ersten Zeit beging ich selbst kleine Diebstähle und besuchte zugleich die Schule. Danach begnügte ich mich nicht mehr mit kleinen Diebstählen, bekam Erfahrung mit größeren und wurde Ataman dieser Bande. Ich war 14–15 Jahre alt. Ich selbst stahl nicht mehr, alles Gestohlene wurde mir gebracht, ich verfügte darüber und ging gleichzeitig zur Schule. Bereiste die ganze Sowjetunion. Es gibt keine Stadt in der Sowjetunion, in der ich nicht gewesen wäre.
Danach beendete ich die Zehnklassenschule sowie die Abendschule für Erwachsene und bestand die Zwischenprüfungen, war aber auch Dieb. In Odessa konnte ich nicht mehr bleiben. Ich zog nach Tiraspol, [607] wo ich die Prüfungen nach zehn Schuljahren ablegte und bestand. Ich beschloss, ein Mensch zu werden. Den ganzen Sommer bereitete ich mich [auf die Aufnahmeprüfung] vor, führte aber mein Leben mit Saufen, Kneipen und Mädchen weiter. Dann, 1938, trat ich ins Industrie-Institut ein. Der Wettbewerb war groß, um einen Platz bewarben sich acht Studienanwärter. Ich war unter den Ersten, die bestanden. Vom zweiten Studienjahr an beschloss ich, das Lotterleben zu beenden und ein Mensch zu werden, ich ging freiwillig zur Armee.
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