Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
heraufbeschworen - und wieder wurden sie in den gefürchteten Zeitstrudel hineingezogen.
Vielleicht war das Ganze diesmal etwas leichter. Aber nicht sehr viel.
Sie landeten in einem Sturm, der unter einem wolkenverhangenen Himmel tobte. Nikolai schnappte nach Luft, als ein Windstoß ihm beinahe den Hut abriss. Während er ihn mit einer Hand festhielt, umklammerte er mit der anderen Jeans Arm.
»Na, das ist ja schön«, sagte sie atemlos. »Hast du eine Ahnung, wo wir sind?«
Er blickte auf zu nassen Lagerhäusern. »Ich rieche das Meer, also kann das hier nicht London sein.« Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf seine Wahrnehmung, um mehr über ihren Aufenthaltsort zu erfahren. »Eine giftige Atmosphäre liegt über diesem Ort - als hielten der Teufel und seine Dämonen hier ein Fest ab. Spürst du das nicht auch?«
Jeans Miene wurde völlig ausdruckslos, als sie sich sammelte und ihrer inneren Sicht zuwandte. »Dieser Ort ist auf Blut und Leid erbaut worden.«
»So ist es.« Nikolai nickte. Sie begannen, auf das Wasser zuzugehen. »Ich vermute, dass wir uns an einem der alten Sklavenhäfen der Westküste befinden - in Bristol oder Liverpool. Wahrscheinlich Liverpool, da er nördlicher zu liegen scheint.«
Ihre Straße endete am Wasser. Eine heftige Windbö hätte Jean vielleicht hineingestoßen, wenn Nikolai sie nicht festgehalten hätte. Mit ihrer freien Hand raffte sie ihren Umhang vor der Brust zusammen. »Mehr als bei jeder anderen Stadt ist Liverpools Reichtum auf dem Sklavenhandel aufgebaut.«
»Das klingt, als gäbe es hier sehr viel zu tun. Was mag unsere Mission hier sein?« Er wandte sich nach rechts, und sie gingen Arm in Arm am Wasser entlang. Die wenigen anderen Leute, die bei dem Sturm noch draußen waren, eilten über die Straßen zu Unterschlupf und Wärme. Keiner von ihnen sah aus, als bräuchte er die Hilfe von Zeitreisenden.
»Großer Gott! Könnte das Thomas Clarkson sein?« Jean zeigte auf eine hochgewachsene, schlaksige Gestalt, die auf einen Pier hinaustrat. Da dort nicht gearbeitet wurde, wollte er vielleicht das aufgewühlte Meer beobachten. »Er könnte uns erkennen, deshalb sollten wir besser nicht in seine Nähe kommen - falls er nicht gerade in Gefahr gerät, vom Sturm ins Wasser getrieben zu werden.«
»Haben wir irgendeine Magie zur Verfügung, die in einem solchen Fall von Nutzen wäre? Es wäre schwierig, ihn aus so rauer See herauszufischen«, bemerkte Nikolai. Er gab sich Mühe, unbesorgt zu klingen, aber die negative Energie an diesem Ort war viel zu intensiv, um ignoriert zu werden. »Für mich fühlt diese Stadt sich an, als enthielte sie die bösen Geister Afrikas, die kommen, um die Seelen der Menschen zu stehlen.«
»Bei Liverpools Geschichte mit dem Sklavenhandel sind sie ihrer Seelen vielleicht schon beraubt worden.«
Nikolai nickte nur, weil die negative Energie ihm so die Kehle zuschnürte, dass er nicht reden wollte. Während sie sich umsahen, strömten acht oder neun Männer aus einer schäbigen Taverne und stemmten sich dem Sturm entgegen, als sie auf die Uferstraße traten. Einer aus der Gruppe zeigte auf den einsamen Mann auf dem Pier und sagte etwas zu seinen Begleitern. Es war unmöglich, in diesem Wind die Worte zu verstehen, aber die ganze Gruppe hielt jetzt entschlossen auf den Pier zu. Sie waren schon halb draußen, als der Mann am Ende sich umdrehte und sie kommen sah.
»Das ist Clarkson«, bemerkte Jean nervös. »Und ich glaube, er wird Hilfe brauchen.«
Nikolai beschleunigte seine Schritte, als einer aus der Gruppe anfing, Clarkson anzuschreien. Seine Worte gingen im Heulen des Windes unter, aber es war offensichtlich, dass er den Kleriker bedrohte. In seiner schwarzen Priesterkleidung sah Thomas Clarkson wie eine vom Pöbel angegriffene Vogelscheuche aus. Zwei der Männer packten ihn und begannen, ihn trotz seiner heftigen Gegenwehr zum Rand des Piers zu zerren.
»Oh Gott!«, rief Jean entsetzt. »Er kann vielleicht nicht schwimmen, und selbst wenn, würde ihm das bei diesen Wellen nicht viel nützen!«
Nikolai rannte los. Überall um ihn herum konnte er den vor Zorn und Zerstörungswut pulsierenden Geist des Bösen spüren, und der Druck erschwerte Nikolai das Atmen. Grimmig rannte er weiter. Clarkson schaffte es, sich loszureißen, und fast entkam er den Seeleuten sogar, aber dann wurde er wieder gepackt und umgeworfen. Seine Angreifer fingen nun an, ihn mit Tritten, wütendem Geschrei und Beleidigungen zu traktieren.
Weitere Kostenlose Bücher