Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
sie selbst zwanzig Jahre später noch erkannt würden. Aber sie beschlossen, auch diesmal zu demselben Kaffeehaus und der Buchhandlung zu gehen, da die Lokale günstig lagen und die Wahrscheinlichkeit, erkannt zu werden, sehr gering war.
In dem Buchladen war es herrlich still, als Jean eintrat. Zufrieden blickte sie sich um und erfreute sich an den Gerüchen nach Papier, frischer Tinte und den bis zum Rand gefüllten Buchregalen. Auf Tischen im vorderen Teil des Ladens waren Neuerscheinungen ausgestellt.
Ein Mann in mittleren Jahren kam zu ihr herüber. Sie erinnerte sich noch schwach, dass er Smythe junior, der Sohn des alten Eigentümers, war. Wahrscheinlich führte er jetzt das Geschäft. »Guten Tag, Madam«, begrüßte er sie. »Suchen Sie einen bestimmten Titel, oder möchten Sie sich nur umschauen?«
Jean stellte die gleiche Frage wie vor zwanzig Jahren. »Haben Sie Bücher über Sklaverei und Abolition? Oder Berichte ehemaliger Sklaven?«
Smythe strahlte sie an. »Wie jeder Buchhändler in London haben wir eine gute Auswahl an solchen Büchern. Tatsächlich habe ich sogar eine besondere Auslage dafür eingerichtet.« Er führte sie zu einem der vorderen Tische, auf dem mehrere Dutzend Bücher aufgestapelt waren. »Ignatius Sanchos Briefe sind sehr gefragt. Der Autor kam mitten auf dem Atlantik auf einem Sklavenschiff zur Welt, als seine Eltern nach Amerika verfrachtet wurden. Später gelangte er dann nach England. Seine Geschichte ist sehr anrührend.«
Er drückte Jean eine Ausgabe in die Hand. »Falls Sie noch kein Exemplar besitzen, werden Ihnen vielleicht auch Phillis Wheatleys Gedichte über verschiedene religiöse und moralische Themen gefallen. Das Buch ist schon ein Dutzend Jahre auf dem Markt, aber es ist nach wie vor sehr populär. Sie ist eine amerikanische Sklavin, die eine solch schnelle Auffassungsgabe besaß, dass ihre Herrin sie unterrichten ließ. Phillis Wheatley hat sogar London besucht und wurde sehr gefeiert für ihre Klugheit und Empfindsamkeit.«
Jean sah sich die Gedichte an und legte dann das Buch zu Sanchos Briefen. »Genau solche Bücher habe ich gesucht. Was haben Sie sonst noch in der Art?«
»Ich habe Abhandlungen des Amerikaners Anthony Benezet sowie das Werk unseres eigenen Granville Sharp und der Reverends John Wesley und James Ramsey.« Er sprach wie ein Mann, der die besagten Bücher gelesen hatte und mit ihrem Inhalt einverstanden war.
Jean sah sich jedes Buch an, das Smythe ihr anbot, und versuchte, ihre Aufregung zu verbergen, wenn sie es zu ihrem kleinen Stapel legte. Vor zwanzig Jahren hatte es fast keine Veröffentlichungen über Sklaverei oder Abolition gegeben. Das Interesse daran musste seit damals ungemein gewachsen sein.
Als Jean ihre Einkäufe bezahlte, sagte Mr. Smythe: »Schauen Sie bald wieder bei uns vorbei, Madam. Wir erwarten in Kürze ein neues, von einer ehemaligen Sklavin geschriebenes Buch. Der Herausgeber sagte, es sei fantastisch. Er hat schon mehr Vorbestellungen dafür erhalten als für alles andere, was er je herausgebracht hat.«
Ein halbwüchsiges Mädchen mit einem großen Korb voller Bücher kam aus einem Hinterzimmer. »Hier, Papa, du sagtest doch, ich sollte diese gleich nach ihrem Eintreffen heraufbringen.«
»Genau im rechten Augenblick!«, rief Smythe entzückt. »Hier ist das Buch, von dem ich sprach, Madam. Meine Reise zu Glauben und Freiheit von einer Autorin, die unter dem Pseudonym ›Eine afrikanische Prinzessin‹ schreibt.« Er schlug eins der Bücher auf und begann selbst, darin zu lesen.
Auch Jean öffnete ein Exemplar und sah, dass es von James Phillips, dem Quäker, herausgegeben worden war, von dem sie durch Adias Aufzeichnungen erfahren hatte. Beim Anblick der Titelseite versteifte sie sich vor Schock. »Das nehme ich auch.«
Der Anzahl der gekauften Bücher wegen trug Mr. Smythe sie persönlich in einem Korb zu ihrem Gasthaus. Sie bedankte sich bei ihm und eilte dann nach oben. Jean konnte es kaum erwarten, Nikolai von ihrer Entdeckung zu erzählen.
Nikolai fand die Kaffeehausgespräche ausgesprochen interessant, daher war es schon später Nachmittag, als er in das Gasthaus zurückkehrte. Er ging gleich zu Jeans angrenzendem Zimmer, in dem er sie lesend neben dem Fenster antraf.
Als sie aufblickte, sagte er in überschwänglicher Begeisterung: »Jean, in den letzten zwanzig Jahren hat die Welt sich stark verändert! Bei meinem Eintreten sprachen die Männer über den Sklavenhandel, und fast alle Anwesenden
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