Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
vor etwa einer Stunde wussten wir ja selbst nicht, wo wir landen würden! Wie haben sie uns diese Einladung beschafft?«
»Es ist besser, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen«, meinte Nikolai. »Das habe ich jedenfalls für mich beschlossen. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass die Vorfahren eine Art fantastischen Gobelin weben, dessen Gegenstand die Abolition ist. Da die Fäden miteinander verwoben sind, verknüpfen sich die Ereignisse. Wilberforce, von dem Thomas Clarkson ja schon sprach, ist genau wie wir ein Förderer der Abolition. Mit unserem Erscheinen hier wurden wir zu einem Teil des Musters, und das verbindet uns mit der Abolitionsbewegung.«
»Ich bin nicht sicher, ob das einen Sinn ergibt, aber die Theorie gefällt mir.« Jean blätterte zu einer anderen Seite um. »Wann ist dieser Empfang?«
Nikolai sah sich die Einladung noch einmal an. »Heute Abend.«
»Großer Gott!« Jean fuhr erschrocken aus dem Sessel hoch. »Wir müssen etwas Anständiges zum Anziehen finden!«
Nikolai runzelte die Stirn. »Wie das? Uns bleibt keine Zeit, uns etwas anfertigen zu lassen.«
»In London ist alles möglich. Ich bin sicher, dass der Gastwirt uns einen Laden nennen kann, der gebrauchte Kleidung von guter Qualität anbietet, die in ein paar Stunden auf unsere Maße umgeändert werden kann.«
Und so war es auch. Der Rest des Morgens verging mit Besuchen der von dem Gastwirt empfohlenen Geschäfte, dem Aussuchen von Kleidungsstücken, die der Gelegenheit angemessen waren und einigermaßen passten, und dem Warten auf die Änderungen. Jean machte bei dieser Gelegenheit die Entdeckung, dass sowohl die Herren- als auch die Damenbekleidung schmaler geschnitten war als in ihrer eigenen Zeit. Vorausgesetzt natürlich, dass 1750 noch als ihre eigene Zeit betrachtet werden konnte.
Jean fand ein hübsches Kleid aus weißem, in zwei Schattierungen von Grün gestreiftem Baumwollstoff. Es stand ihr sehr gut, ohne jedoch auffallend genug zu sein, um unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Sie kaufte auch Puder für ihr Haar. Obwohl sie eine Abneigung gegen das Pudern hatte, half es ihr doch, ihr am leichtesten erkennbares Merkmal zu verbergen.
Bei Nikolai dagegen war eine Tarnung schlicht unmöglich. Frauen würden ihn in seinem gut geschnittenen dunkelblauen Rock sofort bemerken, und Männer würden auf seine Aura maskuliner Stärke reagieren. »Du siehst fabelhaft aus«, sagte sie. »Ich hoffe nur, dass dich niemand zu einem Duell herausfordert.«
»Warum sollte das jemand tun?«, fragte er erstaunt.
»Weil es den Ehemännern nicht gefallen wird, wenn ihre Frauen dich umschwärmen«, erklärte sie.
Nikolai lachte. »Das bezweifle ich. Aber ich frage mich, warum es der Wille der Vorfahren ist, dass wir an diesem Ereignis teilnehmen. Vielleicht, weil Clarkson dort sein und in Schwierigkeiten geraten wird?«
Froh, das Geschick noch nicht verloren zu haben, ließ Jean den chinesischen Seidenfächer flattern, den sie passend zu dem Kleid gekauft hatte. »Ich halte es für wahrscheinlicher, dass er in den Provinzen unterwegs ist und dort das Interesse für die Abolitionsbewegung schürt und noch mehr Anhänger gewinnt.«
Nikolai reichte ihr seinen Arm, und sie gingen zu der kleinen Mietkutsche hinunter, die sie bestellt hatten. Der Empfang fand in Wilberforces Haus in Clapham statt, einem Dorf drei Meilen südlich von London, weshalb es ihnen am günstigsten erschienen war, für eine unabhängige Transportmöglichkeit zu sorgen.
Bei ihrer Ankunft fanden sie einen wahren Stau von Kutschen und Mengen energiegeladener Menschen vor. Als sie von ihrer Mietkutsche zu dem großen Haus hinaufgingen, bemerkte Nikolai gedämpft: »Diese Umgebung strahlt Licht und positive Energie aus.«
»In der Zeitung stand, dass hier viele Protestanten leben, die alle an der Verbesserung der Gesellschaft arbeiten.« Jean dachte an Adias Notizen, die zwei Seiten über Wilberforce enthielten. »Mr. Wilberforce lebt mit einem Cousin zusammen, Henry Thornton, der auch ein aktiver evangelischer Reformer ist. So viele gute Menschen in der Gegend müssen die Finsternis des Dämons vertreiben.«
Nikolais Blick wurde leer, als er nach innen blickte, um die Energien, die sie umgaben, zu prüfen. »Ich kann die Dunkelheit direkt außerhalb dieses Lichtstrahls spüren. Sie ist wie ein Wolf, der um ein Feuer herumschleicht und hofft, dass ein schwacher oder dummer Mensch nahe genug herankommt, um ihn sich zu schnappen.«
»Was für ein
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