Die Statisten - Roman
kam es vor, dass er einen ausländischen Touristen nach Malabar Hill oder zum Prince of Wales Museum oder zum Sea Green oder zum Ambassador Hotel fuhr, und dann jedes Mal innerlich zusammenzuckte, wenn der Fahrgast sich darüber erschrocken und angeekelt zeigte, von einem dreckigen StraÃenbengel angetatscht zu werden. Er versuchte, den Jungen zu ignorieren, aber das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Der Junge nuschelte irgendwas vor sich hin, zweifellos der übliche Spruch von wegen, er habe weder Mutter noch Vater, noch Schwester, noch Bruder, und der Leichnam seiner GroÃmutter liege um die Ecke auf der StraÃe, und er brauche Geld für ihre Bestattung. Aber Ravan achtete nicht auf ihn, bis sechs Worte in sein vernebeltes Bewusstsein drangen: âNikhat Begum ruft Sie nach oben.â Ravan sprang aus dem Taxi, schloss die Tür ab und fragte den Jungen, wo, wo, wo denn Nikhat Begums Wohnung sei. Der Junge deutete auf ein Fenster im fünften Stock, von wo eine Frau mit einem dupatta auf dem Kopf ihm zuwinkte.
âWarum hat es so lang gedauert? Ich hab noch anderes zu tun! Fahren Sie sie nach Haus!â, schnauzte ihn die Frau an, als er den obersten Treppenabsatz erreichte. Sie zog sich den Dupatta noch tiefer ins Gesicht, sodass die Augen teilweise bedeckt waren. âNa los! Verschwenden Sie nicht noch mehr Zeit!â Die Frau schien es furchtbar eilig zu haben. âMeine Arbeit ist erledigt.â Von was für einer Arbeit redete diese Nikhat Begum? Sie hatte eine dicke breite Nase, die die Hälfte ihres Gesichts einnahm, und Zähne, die vom Tabakkauen eine abscheuliche schwarzbraune Farbe angenommen hatten. Wenn Ravan sich früher gefragt hatte, woran man eine Prostituierte von Frauen wie Pieta oder seiner eigenen Mutter unterscheiden konnte, dann war es ihm jetzt ein noch gröÃeres Rätsel, wie er so sicher sein konnte, dass Nikhat Begum eine ehemalige Hure war. âWo ist sie?â, fragte Ravan naiv, und sie zeigte auf eine von auÃen abgesperrte Tür. Als sie den altmodischen Riegel zurückzog und die hölzernen Türflügel aufstieÃ, schlug Ravan der widerliche Gestank entgegen, den er jedes Mal wahrnahm, wenn er jemanden zum J.J. Hospital fuhr. Es war eine Mischung aus Urin, abgestandenem Blut, ScheiÃe und billigem Desinfektionsmittel. Viel konnte er nicht sehen, da es im Zimmer dunkel war, aber er hatte den Eindruck, dass auf dem Eisenbett ein unordentlicher Haufen Kleider lag.
âKönnten Sie bitte das Licht einschalten?â
âWozu? Schluss mit dem Theater! Ich hab schon genügend Zeit verplempert.â
In dem Augenblick wusste er mit absoluter Gewissheit, dass es Pieta war, die da auf dem Bett lag, und dass sie tot war. Es dauerte, bis er den Schalter fand. Eine armselige 40-Watt-Birne leuchtete auf. Er ging ans Bett und schaute auf den Kleiderhaufen. Er hatte recht gehabt. Es war Pieta, sie lag mit geschlossenen Augen da. Er kannte sie als eine Frau mit makellosem Teint und einem Pfirsichhauch auf den Wangen, aber jetzt war sie weiÃ, kreideweiÃ, ein hässliches, fleckiges, abstoÃendes WeiÃ. Ihre Lider flatterten ab und zu, aber sie schien, wenn überhaupt, nur halb bei Bewusstsein zu sein.
âWas haben Sie ihr angetan?â, fragte er Nikhat Begum.
Sie lachte rau. âSie sind mir ja ein Witzbold! Die Frage ist doch wohl eher: Was haben Sie ihr angetan?â
Ravan war verwirrt. Was hatte er Pieta angetan? Er kannte sie doch kaum.
âBringen Sie sie einfach nach Hause. Es wird allmählich spät, ich muss weg.â
Pieta stöhnte, als läge sie auf der Streckbank, und stieà das Laken beiseite, das sie bedeckte. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Der Bettbezug war von einer dunklen Flüssigkeit durchtränkt, die rasch eintrocknete. Ebenso das Laken. Ravan gab sich alle Mühe, sie nicht anzusehen.
Sie warf sich hin und her, und ihr Kleid war hochgerutscht. Sie hatte keine Unterhose an; ihr kurzes Haar war krustig verfilzt. Plötzlich explodierte ihre Scheide und erbrach einen Schwall von Blut. Ravan meinte zunächst, es sei mit kleingehäckselten Verdauungsresten vermischt, vielleicht war es auch ScheiÃe, aber die Stückchen und Fetzchen waren weià und fleischig. Der Wolkenbruch war so schnell vorüber, wie er gekommen war, und nun gurgelte nur noch in Abständen ein kleines Rinnsal Flüssigkeit heraus. Langsam, ganz langsam zerplatzten die Bläschen und
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