Die Statisten - Roman
Ravan, der Junge aus dem vierten Stock, in der Byculla-Wache hinter Gittern saÃ, hatte Violet gedacht, endlich, endlich habe die Familie, die ihr so viel Leid beschert hatte, ein gewisses, wenn auch noch so bescheidenes Maà an gerechter Strafe und Vergeltung heimgesucht. Wie sehr hatte sie sich getäuscht! Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie dieses Weib Parvati den schmählichen Untergang der Violet Coutinho genieÃen würde.
So spät es auch war, Violet entschied, dass sie endlich die Nabelschnur durchtrennen musste. Eddie war für sie nicht lediglich tot und begraben. Sie würde auch die Jahre zurückspulen und dafür sorgen, dass er gar nicht erst geboren worden war. Wie oft hatte sie ungläubig zugeschaut, wie ihr Sohn mit einem einzigen Knopfdruck auf seinem Tonbandgerät ganze Songs löschte! Es würde nicht annähernd so einfach sein, aber wenn sie sich etwas vornahm, gelang es ihr in der Regel auch. Was immer es kosten mochte, ja, was auch immer â sie würde ihn sich aus dem Schoà und dem Gedächtnis reiÃen! Von diesem Tag an würde sie seine Anwesenheit nicht mehr zur Kenntnis nehmen und keinerlei Umgang mehr mit ihm pflegen.
Es würde zwangsläufig Probleme geben, keine Frage. Violet konnte natürlich versuchen, Pieta durch ZwangsmaÃnahmen dazu zu bringen, sich von ihrem Bruder loszusagen, aber vor ihrer Mutter würde sie sich in Acht nehmen müssen. Vom Augenblick seiner Geburt an war Eddie eher Maria-Augustas als Violets Baby gewesen. Violet wusste, dass ihre Mutter Eddie in absolut jedes Gespräch hineinziehen und damit die Mauer des Schweigens untergraben würde, die sie, Stein für Stein und Ziegel für Ziegel, um diesen Schwerverbrecher, der sich für ihren Sohn ausgegeben hatte, zu errichten beabsichtigte. Es war nicht fein, das über seine eigene Mutter zu sagen, aber Maria-Augusta war eine gerissene Frau, und keine List war ihr zu tückisch oder zu gewissenlos, wenn es darum ging, âihrenâ Eddie zu verteidigen. Violet hätte ihren Sohn bedenkenlos aus dem Haus werfen können, aber dann wäre ihre Mutter mit ihm ausgezogen, und das hätte einen noch gröÃeren Skandal ausgelöst, als wenn Eddie im Gefängnis gelandet wäre. Doch sie war sicher, ihren Sohn überlisten zu können. Sie würde ihm das Leben so unerträglich machen, dass er freiwillig das Feld räumen würde.
Als Eddie aus der Zelle geführt wurde, die weitere neunzehn Kriminelle beherbergte, und das Gesicht seiner Mutter sah, wusste er, dass er die Sache verpatzt hatte. Er hätte sich ein Samuraischwert besorgen und in die Eingeweide rammen sollen. Oder zumindest sich Inspector Gupte zu FüÃen werfen und ihn um Vergebung anflehen und geloben sollen, Aunties Laden fortan ohne einen freien Tag führen zu wollen.
Jetzt war er wieder zu Hause, und es war ein Schicksal schlimmer als der Tod. Nicht nur, weil er aufgehört hatte, für Violet zu existieren; er ahnte, dass er ohne sie tatsächlich keine Existenz mehr besaÃ. Natürlich war das nicht das erste Mal, dass sie sich weigerte, ein Wort mit ihm zu reden. Das war ihre bevorzugte Vorgehensweise, wenn sie der Ansicht war, es seien die extremsten StrafmaÃnahmen erforderlich. Aber es bestand ein gravierender Unterschied zwischen den Schweigezeiten von einst und den gegenwärtigen. Die früheren waren von relativ kurzer Dauer gewesen und hatten damit geendet, dass Eddie in die Kirche geschickt wurde, um bei Pater Agnello DâSouza zu beichten. Doch das jetzige Schweigen schaltete ihn einfach aus. Ihre Methode war ebenso schlicht wie effektiv: Wenn man jemanden nicht zur Kenntnis nimmt, hört er auf zu existieren.
GroÃmutter und Pieta versuchten immer wieder, Eddie anzusprechen oder ihn in das Gespräch einzubeziehen, aber Violet würgte jeden Versuch ab, indem sie den Raum verlieÃ. Ihre Strategie der Ausgrenzung begann Wirkung zu zeigen. Nach einer gewissen Zeit gab Pieta es auf, ihn anzusprechen, zumindest zu Hause, und die steinerne Teilnahmslosigkeit seiner Mutter schien sogar GroÃmutter zu entmutigen. Es war nicht zu verkennen, Eddie war dabei, für seine Familie immer überflüssiger zu werden. Er kam sich vor, als sei er auf einem Schiff, das sich rasch vom Ufer entfernte, und die Menschen an Land wurden immer kleiner und kleiner und würden bald alle Substanz und Realität verlieren. Irgendwann würde
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