Die Statisten - Roman
hatten? Dachte sie vielleicht gelegentlich daran, dass ihre Mutter entsetzliche Gelenkschmerzen hatte und dass irgendjemand schlieÃlich die Brötchen verdienen musste? Die ganzen Jahre lang hatte sie mit Eddie und seiner störrischen Art fertig werden müssen. Jetzt war auch Pieta fest entschlossen, sie zu verraten! Wer sollte wohl die Studiengebühren bezahlen? Ãrztin zu werden, eine richtige Doktorin, die sich ihren Lebensunterhalt selbst verdiente, würde noch weitere sieben bis acht Jahre dauern, das hatte Pieta selbst gesagt. Sie würde versuchen, ein Stipendium zu kriegen, schön und gut. Aber konnte irgendjemand garantieren, dass sie es auch jedes Jahr wieder bekommen würde, für die nächsten sieben Jahre?
Und was war mit ihrem jüngeren Bruder? Wer würde für seine Ausbildung sorgen? Was, wenn er Arzt oder Pilot oder Ingenieur werden wollte? Würde sie so selbstsüchtig sein, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen? Ihn des Geldes berauben, das ihm rechtmäÃig für seine Ausbildung zustand? Schämen sollte sie sich! Anständige katholische Mädchen, die einen Bachelor in Geistes- oder Wirtschaftswissenschaften machten, hatten viel bessere Möglichkeiten. Sie wurden Sekretärinnen. AuÃerdem, was hatte es für einen Sinn, Ãrztin zu werden, wenn man am Ende ja doch heiratete und Kinder bekam? Was glaubte sie wohl, was für eine Mutter sie abgeben würde, wenn sie den gröÃten Teil des Tages, und auch die meisten Nächte, auÃer Haus war, um sich um anderer Leute Kinder zu kümmern?
Nein, es kam überhaupt nicht in Frage, dass sie Pieta erlaubte, Medizin zu studieren! Irgendjemand musste dafür sorgen, dass sie vernünftig blieb. Schlimm genug, dass es ihre Mutter sein musste. Pieta heulte, bis ihr Gesicht völlig verquollen war. Sie diskutierte, sie flehte, sie weinte, sie schmollte. Sie drohte, von zu Hause auszuziehen. Niemand, weder die GroÃmutter noch Eddie, ergriff für sie Partei. Violet blieb eisern. Sie wusste, dass ihre Tochter zu guter Letzt Vernunft annehmen würde. Sie behielt recht. Pieta machte eine Sekretärinnenausbildung und bekam eine Stelle bei einem multinationalen Unternehmen. Sie klagte und weinte nicht mehr. Sie sagte überhaupt kaum noch etwas. Es war unmöglich zu wissen, was in ihr vorging. Oder in ihrem Leben. Tatsächlich war sie so gut wie unsichtbar geworden.
Ein revolutionärer Vorschlag, wie sich durch Abschaffung des staatlichen Bildungssystems die Qualität der Bildung drastisch verbessern lieÃe
Nebenbei würde dies der Nation jährliche Einsparungen von Zigmillionen Rupien und eine Verkürzung der Schulund Studienzeiten von sechzig Prozent einbringen.
Pieta ist eine absolute Ausnahme. Sie bekam ohne jeglichen Nachhilfeunterricht 89 Prozent der möglichen Punktzahl. Ein paar andere erreichen 94 oder sogar 96 ganz aus eigener Kraft, und es ist der Fall eines Jungen aus den Slums überliefert, der den zentralen Oberschulabschluss als Jahrgangsbester abschloss. Was jedoch Ravan und Eddie anbelangt sowie Zehntausende anderer Jungen und Mädchen, insbesondere aus ärmeren Familien, so kommen diese vielleicht von der neunten in die zehnte Klasse, aber den Abschluss schaffen sie selten. In Sachen Schulbildung ist da für sie Endstation.
In Indien tritt alles paarweise auf und alles hat eine Parallele. Da gibt es zum einen natürlich die legendäre Schattenwirtschaft, die angeblich viel gröÃere und weit leistungsfähigere Parallele zu ihrer offiziellen Entsprechung; das kommerzielle Kino hat sein Gegenstück im sogenannten âparallelenâ oder Kunstfilm; die kommunalen Polizeitruppen werden durch parallele Milizen komplementiert und konterkariert; die Kongresspartei spaltete sich schon vor langer Zeit, ebenso die ursprüngliche Marxistische Partei Indiens, und beide Abspaltungen der zwei Parteien existieren nach wie vor parallel nebeneinander. Aber es gibt eine weit umfangreichere, wenngleich unterschätzte, parallele Industrie, die die Basis des gesamten indischen Bildungssystems ausmacht: den Nachhilfeunterricht.
In der fünften Quergasse der Sir Balchandra Road in der Hindu Colony in Dadar, nahe einem wichtigen Knotenpunkt der Central Railway, lebte einst eine verkannte nationale Leuchte und Institution namens Mr Chaphekar. Er hatte seine Jugendjahre in GroÃbritannien verbracht und dort sein Glück mit allerlei
Weitere Kostenlose Bücher