Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Statisten - Roman

Die Statisten - Roman

Titel: Die Statisten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A1 Verlag GmbH
Vom Netzwerk:
Unternehmungen versucht, wie zum Beispiel, durch die Eröffnung des vielleicht allerersten vegetarischen indischen Restaurants in London ein kleines Stück des kolonialen Mutterlandes zu kolonisieren oder Mathematiklehrbücher auf eine einzigartige, wenn nicht gar revolutionäre Weise zu drucken: Die Seiten sollten hochglanzschwarz, der Text dagegen weiß sein. Es ist nicht überliefert, was aus diesem bahnbrechenden Vorhaben wurde. Wir wissen nur so viel, dass er, als Indien die Unabhängigkeit erlangte, in die Heimat zurückkehrte und sie nie wieder verließ. Und dort machte er einen Vorstoß in ein nahezu jungfräuliches Gebiet. Tatsächlich gilt er als einer der Pioniere eines Dienstleistungssektors, der heute jährlich Milliarden von Rupien erwirtschaftet: des privaten Nachhilfeunterrichts. Chaphekar trug eine – im Gegensatz zu Gandhis – knöchellange Dhoti, ein weißes Hemd, eine schwarze Jacke und eine dreifingerdicke Brille. In Bombay unterrichtete er sture, stupide, stinkfaule Schüler in Algebra, Geometrie, Trigonometrie und Englisch, während er sich fuderweise Schnupftabak in die Nase stopfte und in sein fleckiges Taschentuch schnäuzte. Er verlegte sich niemals auf körperliche Strafen; das hatte er gar nicht nötig, da er einen Spruch hatte, der schärfer war als jeder Degen. Er konnte einen damit durchbohren, in Scheiben schneiden und enthaupten. Wenn ein Schüler zu dem Ergebnis gelangte, sieben mal sechs sei dreiundvierzig, schüttelte er verzweifelt den Kopf und sagte: „Aho tumhi kiti dhadadhadit khota bolta ho? Wie kannst du derart eklatante Lügen erzählen?“ Denk nach – ich weiß, dass ich dir da Unmögliches abverlange – und schau, ob du dich nicht doch dazu durchringen kannst, die Wahrheit zu sagen!“
    Was waren das für naive Zeiten! Eltern schickten ihre Kinder in den Nachhilfeunterricht, weil sie in ein, zwei Fächern schwach waren und ein bisschen Förderung brauchten, besonders wenn die Abschlussprüfungen nahten. Chaphekar war in Mathematik unschlagbar, und sein Englisch war mustergültig. Die Nachhilfestunden waren seine einzige Einnahmequelle, aber auch wenn sein Sohn und seine Neffen zum Lehramtsstudium verdonnert wurden, war Geld nicht seine einzige Motivation für dieses Geschäft. Es war ein undankbarer Job, aber eines war klar: Er liebte es zu unterrichten. Wenn Sie schon glauben, es sei unmöglich, in einen Bombayer Nahverkehrszug hineinzukommen, dann versuchen Sie doch mal, ihr Kind in einer Schule im Zentrum unterzubringen, besonders in einer englischsprachigen. Es wäre zwar ruchlos, Ihnen die geringsten Hoffnungen zu machen, aber hier folgen ein paar – durchweg sehr beschränkte – Möglichkeiten, die Ihnen offenstehen. Melden Sie Ihr Kind gleich nach der Geburt an, und zwar nicht seiner, sondern Ihrer eigenen; spenden Sie dem Schulrektor eine, vorzugsweise aber beide Nieren; trennen Sie sich von ein paar hunderttausend Scheinen (aber rasch! Denn die erforderliche Zahl von Nullen steigt schneller als die Immobilienpreise in Bombay); besorgen Sie sich zumindest ein Empfehlungsschreiben vom Chief Minister des Bundesstaates, besser jedoch von der neuen Mother India, Sonia Gandhi; oder gründen Sie eine eigene International-Baccalaureate-Schule. Aber selbst dann haben Sie keine Garantie, dass Ihr Kind reinkommen wird.
    Im Lauf der Jahre ist das Alter, ab dem ein Kind zusätzliche Förderung braucht, kontinuierlich gesunken. Von der ersten bis zur zehnten Klasse bekommt jeder Junge und jedes Mädchen seine tägliche Dosis Schule und Nachhilfeunterricht. Das Leben ist, wie wir alle wissen, eine Folge von Prüfungen, Drangsalen und Beschwernissen. Doch es gibt eine einzige wahre Feuerprobe: das Eignungsgespräch, das ein fünfjähriges indisches Kind bestehen muss, um den Übergang von Kindergarten oder Montessori-Vorschule zur ersten Grundschulklasse bewältigen zu können. Es gibt in der Tat – wenn auch seltene – Fälle, in denen das Kind das Ereignis überlebt hat, die Eltern aber mit Sicherheit nicht. In Anbetracht dessen, was auf dem Spiel steht, würde es selbst die hartherzigste Mutter nicht wagen, ihrem Kind die täglichen nachkindergartlichen Vorbereitungskurse für das Gespräch zu verweigern, das darüber entscheiden wird, ob es auf einer guten Grundschule zugelassen werden wird; beziehungsweise überhaupt

Weitere Kostenlose Bücher