Die Steine der Fatima
kostbares Kleinod, den Schlüssel zu aller Weisheit ging? Ein Heiligtum von unschätzbarem Wert für die Gläubigen, das sich in den Händen einer Unwürdigen, einer Ungläubigen befand?
Auf seinem Weg durch die Stadt nahm er seine Umgebung kaum wahr. Die Straßen waren jetzt belebt. Ärmlich gekleidete Händler brachten mit Handkarren oder Eseln ihre Waren zum Markt, Frauen waren mit Krügen auf dem Weg zum Brunnen, Viehhändler trieben Schafe oder Ziegen vor sich her. Immer wieder stieß er mit anderen zusammen, und einmal wäre er fast gestürzt, als er die ausgebreiteten Waren eines Töpfers erst zu spät entdeckte. Ohne auf den Mann zu achten, der lauthals hinter ihm herschimpfte, eilte Ahmad weiter.
»Wie kommt dieses Weib zu dem Stein?«, stieß er in mühsam gezügelter Wut hervor, während er sich aus den Tontöpfen und Scherben herausarbeitete. »Warum ausgerechnet sie? Ich muss den heiligen Stein aus den Klauen dieser Barbarin befreien. Wenn ich nur wüsste, wie…«
»Herrin, es ist Zeit zum Aufstehen.«
Eine sanfte helle Stimme holte Beatrice aus dem Schlaf. Nur äußerst widerwillig öffnete sie die Augen und sah über sich das schmale Gesicht von Yasmina, ihrer Dienerin.
»Verzeiht, dass ich Euch geweckt habe, aber der Tag ist schon weit fortgeschritten!«
»Wie spät ist es denn?«, fragte Beatrice und rieb sich verschlafen die Augen.
»Schon bald wird der Muezzin die Gläubigen zum Mittagsgebet aufrufen, Herrin«, antwortete Yasmina.
Beatrice konnte das gar nicht glauben. Ihr kam es so vor, als wäre sie erst vor einer Stunde eingeschlafen. Obwohl sie sich eigentlich geschworen hatte, den Besuch bei Samira als amüsanten Ausflug anzusehen, hatten die Worte und Prophezeiungen der Alten sie doch ziemlich aufgewühlt. Noch lange hatte sie in dieser Nacht wach gelegen und sich von einer Seite zur anderen gewälzt. Erst in den frühen Morgenstunden, als bereits Sonnenstrahlen durch das Gitter der Fensterläden fielen, waren ihr die Augen vor Müdigkeit und Erschöpfung zugefallen. Doch nicht einmal im Schlaf hatte der Stein der Fatima sie in Ruhe gelassen. In wilden Träumen hatte sie gegen Tausende von Spinnen und Käfern gekämpft, war von zwielichtigen Gestalten überfallen worden und auf der Flucht vor gedungenen Mördern um die halbe Welt gereist. Huschende, lautlose Schatten hatten sogar ihr Zimmer durchsucht, um ihr den Stein abzunehmen. Jetzt fühlte sie sich müde und zerschlagen und wollte eigentlich nur eins – weiterschlafen.
»Bitte, Yasmina, lass mich einfach liegen«, murmelte sie, drehte sich auf die Seite und zog ihr seidenes Laken wieder bis zum Kinn. »Ich fühle mich heute nicht wohl und möchte nicht aufstehen. Frühstück und Mittagessen können ausfallen, ich habe ohnehin keinen Appetit. Wenn ich etwas brauche, rufe ich dich.«
»Herrin, verzeiht mir, aber ich muss Euch dennoch bitten aufzustehen.«
Überrascht stützte sich Beatrice auf ihren Ellbogen und sah Yasmina an, als würde sie das zarte Mädchen heute zum ersten Mal sehen. Ihre Dienerin las ihr gewöhnlich jeden Wunsch von den Augen ab und war stets ängstlich darum bemüht, unter gar keinen Umständen Beatrices Unmut zu wecken. Dass die Kleine ihr so hartnäckig widersprach, war mehr als sonderbar.
»Was ist los, Yasmina?«
Das Mädchen senkte beschämt den Blick. »Glaubt mir, Herrin, wenn ich könnte, würde ich Euch so lange schlafen lassen, wie Ihr wollt, aber…«
Beatrice war von einem Moment zum nächsten hellwach. Es musste einen Grund für das untypische Verhalten der Dienerin geben. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und ergriff das Mädchen bei den Schultern.
»Yasmina, sage mir bitte, was los ist.«
»Der Emir hat nach Euch rufen lassen«, erklärte die Kleine, und die erste Träne rollte über ihre Wange. »Er will Euch sofort nach der Mittagsmahlzeit in seinen privaten Gemächern sehen. Er wird mich auspeitschen und aus dem Palast werfen lassen, wenn Ihr nicht rechtzeitig gewaschen und angekleidet seid. Ich muss doch tun, was mir befohlen wird. Und jetzt seid Ihr böse auf mich und werdet mich bestimmt aus Eurem Dienst fortschicken. Und dann muss ich in der Küche Wasser tragen oder gar die Becken im Bad heizen und ich…«
Was sie noch sagen wollte, ging in ihrem heftigen Schluchzen unter. »Nun beruhige dich«, meinte Beatrice sanft und streichelte ihr behutsam über die mageren Schultern. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin dir nicht böse. Im Gegenteil, ich bin sehr zufrieden
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