Die Steine der Fatima
Mond von der Erde. Sie war eine Sklavin und somit weniger wert als ein Pferd aus dem Stall des Emirs. Sie war ein Gegenstand, Eigentum – da gab es keine Trauer und schon gar keine Schuldgefühle. Beatrices Herzschlag beschleunigte sich. Hoffentlich wurden hier im Kerker Listen über die Gefangenen und die Belegung der Zellen geführt. Dann gab es nämlich wenigstens die Chance, dass irgendjemand eines Tages ihren Namen lesen und sich an sie erinnern würde. Falls nicht…
»Hör endlich auf damit, du dumme Gans!«, schalt Beatrice sich selbst. »Du machst dich nur verrückt. Es wird schon alles gut gehen. Und zehn Tage sind schließlich keine Ewigkeit!« Aber darin täuschte sie sich. Zehn Tage wurden schnell zu einer Ewigkeit, wenn man allein im Dunkeln saß und in dieser absoluten Stille nichts anderes hörte als das Klopfen des eigenen Herzens, die eigenen Atemzüge und das Rauschen des Bluts in den Ohren, wenn das Rascheln der eigenen Kleidung zu einem Geräusch anschwoll, das dem Motorenlärm eines Lastwagens nahe kam. Dann spürte man, wie sich Minuten, ja sogar Sekunden ausdehnten und sich zu einer monströsen Dauer aufblähten, die ihnen überhaupt nicht zustand. Und mit jeder verstrichenen Minute schlich der Wahnsinn auf leisen Sohlen näher, bis man schließlich seinen kalten, grausamen Atem im Nacken fühlte.
Beatrice begann ihre Gedanken laut auszusprechen und regelmäßig Selbstgespräche zu führen. Anfangs fand sie es merkwürdig, ihre eigene Stimme in der Dunkelheit zu hören, aber der Klang beruhigte sie wenigstens ein bisschen. Solange sie noch zu sprechen in der Lage war, konnte sie auch notfalls schreien, und dann würde man sie hören – irgendwann. So dick konnten die Mauern gar nicht sein. Das Wichtigste war, bei vollem Verstand zu bleiben und sich nicht in eine Panik hineinzusteigern.
Samira saß auf ihrem aus Kissen errichteten Thron und döste ein wenig. Draußen auf den staubigen Straßen der Stadt herrschte eine mörderische Hitze. Auch hier, im Inneren des Hauses, war es warm und stickig, obwohl alle Fenster mit dicken Teppichen verhangen waren.
Das liegt an dem kaputten Dach, dachte Samira bei sich und verscheuchte träge eine Fliege, die sich auf ihrem Handrücken niedergelassen hatte. Die Sonne brennt im Sommer unbarmherzig auf uns herab, und im Winter kriecht dafür die Kälte durch jede Ritze ins Haus. Ich sollte das Dach reparieren lassen.
Sie döste wieder ein, und ihr Kopf sackte auf ihre Brust, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Schritte, schnelle, schwere Schritte. Mahtab war es nicht. Den ruhigen, etwas schwerfälligen Gang ihrer Tochter kannte sie gut. Aber wer konnte das sein? Wer würde sie in der größten Mittagshitze aufsuchen wollen? Und warum hatte Mahtab den Besucher nicht von ihr ferngehalten? Sie wollte nicht gestört werden. Unwillig öffnete sie die Augen. Im nächsten Moment presste sie die Hand auf den Mund. Ihr Magen hob und senkte sich bedenklich. Sie keuchte. Entsetzen, Trauer, Zorn wechselten in rascher Folge einander ab.
An der Türschwelle stand ein dunkel gekleideter Mann. Er hatte sein Gesicht verhüllt, wie es Reisende zu tun pflegen, wenn sie die Wüste durchqueren. In seiner rechten Hand hielt er einen langen, breiten Dolch. Blut. Frisches rotes Blut tropfte von der Klinge. Mit der Linken hielt er Mahtabs blutigen Schopf gepackt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihre Mutter an, als würde sie selbst im Tod noch Hilfe von ihr erhoffen.
»Sie weigerte sich, mich zu dir zu lassen«, sagte der Kerl, als wollte er sich für den grausamen Mord bei ihr entschuldigen, und warf Samira den Kopf vor die Füße. »Ich hoffe, dass du klüger bist.«
Samira schluckte mehrmals und kämpfte gegen die Ohnmacht an. Mahtab! Ihre Tochter! Dieser gemeine Mörder hatte ihre einzige, ihre geliebte Tochter umgebracht. Warum nur hatte sie sie nicht schreien hören? Warum hatte sie nicht geahnt, was geschehen würde?
Allah, warum hast Du mich mit der Gabe des Sehens ausgestattet, wenn ich noch nicht einmal mein eigenes Kind retten kann?
Sie wollte schreien, ihre Trauer, ihren Schmerz hinausschreien. Doch dann fiel ihr ein, dass er noch da war. Mahtabs Mörder befand sich noch hier im Raum. Er sah ihr zu, weidete sich an ihrem Schmerz. Und es packte sie der Zorn.
»Was willst du?«, fragte sie barsch, als sie sich wieder unter Kontrolle hatte.
Langsam kam der Mann näher. Mit jedem Schritt stieß er Statuen um, zertrat Kerzen und Körbe und riss
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