Die Steine der Fatima
Kräuter von der Decke. Aber Samira achtete kaum darauf. Sie würde das alles nicht mehr brauchen. Sie wusste jetzt, dass sie heute sterben würde.
»Ich möchte dir ein paar Fragen stellen«, sagte der Mörder.
Seiner Stimme war deutlich anzuhören, dass er seine Aufgabe genoss: »Vor einigen Tagen war eine Frau bei dir, eine Ungläubige aus dem Norden mit goldenen Haaren. Was wollte sie?«
»Das wirst du von mir nicht erfahren«, antwortete Samira mit fester Stimme. Gleichzeitig überlegte sie, ob es etwas gab, für das sie Allah um Verzeihung bitten musste. Sie würde nicht mehr lange die Gelegenheit dazu haben.
»So, bist du dir dessen sicher?«, erwiderte er und kam so dicht an sie heran, dass sie ihn fast berühren konnte. Der Dolch funkelte vor ihren Augen. »Denk an diese törichte Frau. Was glaubst du werde ich mit dir machen, wenn du mir meine Fragen nicht beantwortest?«
Samira blickte ihm in die Augen – dunkle, grausame Augen, deren Kälte sie erschauern ließ. Aber sie sah noch etwas anderes in ihnen. Sie sah das Gesicht einer Frau. Sie kannte dieses schöne, ebenmäßige Gesicht. Wie oft hatte diese Frau sie aufgesucht? Wie oft hatte sie ihr mit ihrem Rat geholfen? Und nun schickte ihr dieses Weib einen Mörder? Samira spürte den Zorn in sich brennen.
Nein, du sollst nicht davonkommen!, dachte sie grimmig. Die Strafe Allahs soll dich treffen – und deinen gedungenen Mörder auch!
»Das ist mir gleich«, antwortete sie und lächelte. Sie hatte ein erfülltes Leben gelebt. Viele Menschen hatten sie in ihrer Verzweiflung aufgesucht, und fast jedem hatte sie helfen oder doch wenigstens Trost spenden können. Es gab nichts, das sie bereuen musste. »Du wirst nichts von mir erfahren.«
Ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte Samira, als der Eindringling ihr ohne Vorwarnung den rechten Daumen abschnitt.
»Willst du es dir nicht doch lieber überlegen?«
»Nein!«
Samira verlor auch den linken Daumen.
»Ich weiß, wer dir den Auftrag gab!«, stieß sie unter Schmerzen hervor. »Verflucht soll sie sein! Möge Allah ihr die Schönheit rauben und Missgunst und Neid ihr Gesicht zeichnen. Ihr Herz und ihr Antlitz sollen vertrocknen, und ihr Schoß soll unfruchtbar bleiben.« Dann sah sie ihn an, den Mörder ihrer Tochter. Und zum ersten Mal bemerkte sie so etwas wie Unsicherheit und Angst in seinen dunklen Augen flackern. »Jetzt zu dir. Ich verfluche dich, Malek al-Omar! Nie wirst du in deinem jämmerlichen Leben das erreichen, was du dir vorgenommen hast. Schon bald werden die Krähen dir die Augen auspicken, und deine Seele wird in den Feuern der Hölle verbrennen.«
Mit einem wütenden Aufschrei stürzte sich der Mann auf Samira. Das Messer zuckte wild durch die Luft. Aber so sehr er auch schrie und tobte, sie sagte kein Wort mehr.
Zwischen der fünfzehnten und der zwanzigsten Mahlzeit begann Beatrice damit, Gedichte aufzusagen, die sie im Laufe ihrer Schulzeit gelernt hatte; sie sang alle Lieder, die sie kannte, angefangen von deutschen Volksliedern, Kinderliedern und Schlagern bis hin zu Popsongs, und wenn ihr die Texte nicht mehr einfielen, dachte sie sich neue aus. Um nicht steif zu werden, machte sie Kniebeugen und Liegestütze und Übungen, an die sie sich noch vage aus Frauenzeitschriften erinnerte. Sie rekapitulierte sogar ihr gesamtes chirurgisches Wissen, malte sich alle Operationen aus, die zum Weiterbildungskatalog der Chirurgen gehören, und spielte sie vom ersten Schnitt bis zur Naht Schritt für Schritt durch. Dabei redete sie laut mit imaginären Kollegen und ahmte sogar deren Stimmen nach. Manchmal befürchtete sie, die Grenze zum Wahnsinn endgültig überschritten zu haben. Aber wenn sie schließlich psychisch erschöpft und müde auf dem harten, kühlen Steinboden lag, um ein wenig zu schlafen, und die Stille sie wieder umgab, ahnte sie, dass ihre Zwiegespräche das schmale Band waren, das sie noch vom Irrsinn trennte.
Beatrice schlief schlecht und träumte wirres Zeug vom Stein der Fatima und Samiras Prophezeiungen. Der Emir, mal in OP-Kleidung, mal mit dem Gesicht ihres Chefs ausgestattet, jagte sie kreuz und quer durch den Palast. Dabei war es ihm leicht, die Verfolgung aufzunehmen, da sie mit schweren Eisenketten an den Fußgelenken gefesselt war und nur langsam vorankam. Wenn er es dann endlich geschafft hatte, sie einzuholen, brachte er sie brutal zu Fall und stürzte sich auf sie. Geifer lief aus seinen Mundwinkeln herab und tropfte ihr ins Gesicht, während er ihr
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