Die steinerne Pforte
Sem? Du kannst beruhigt sein, ich werde beim Wesir für sie sprechen. Wenn nötig, habe ich noch einige Getreidereserven. Die werden reichen, bis man sie wieder bezahlen kann.«
»Das . . . das ist wirklich sehr freundlich von Euch. Ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken soll.«
»Ich bin es, der dir Dank schuldet, Sem. Du hast vollbracht, was mein Vater sich für dich erhofft hat. Es ist, als wäre er noch bei uns.«
Wie es hier Brauch war, umarmte er Samuel feierlich zum Abschied.
»Ich werde dich jetzt allein weitergehen lassen. Es ist nicht gut, wenn ich zu viel darüber erfahre. Das würde auch mein Vater nicht wünschen.«
Sam war hin und her gerissen zwischen Rührung und der Sorge, erneut in eine unbekannte Welt aufzubrechen.
»Und er ... er hat Euch wirklich nicht mehr gesagt? Ich meine ... Ich bin nicht sicher, ob ich je wieder nach Hause zurückkehre. Ich würde es ja gern, aber ich habe keine Ahnung, wie ich es anstellen soll.«
Ahmousis sah ihn überrascht an. Er dachte kurz nach.
»Ich weiß darüber weniger als du, Sem. Allerdings vielleicht . . . einmal ist mein Vater sehr lange fortgeblieben. Tage um Tage. Meine Mutter fragte sich schon, ob ihm etwas zugestoßen sei. Als er dann endlich zurückkam, war er sehr abgemagert und erschöpft. Doch er lächelte. Er schloss uns alle in die Arme und sagte: ›Einer von euch hat so fest an mich gedacht, dass er mich auf den Heimweg geführt hat.‹ Mehr hat er nicht gesagt, leider! Möge Amun-Re dir seinerseits den Weg weisen . . .« Sam nahm die Fackel, die Ahmousis entzündet hatte, und stieg hinab in das Grab von Setni. Die Dunkelheit war eine Wohltat für seine Augen. Nach den beiden Treppen folgte er den herrlich bemalten Gängen, vorbei an der Öffnung im Boden, und kam schließlich zu der Strickleiter. Dort warf er seine Fackel durch das Loch und kletterte in die Tiefe. Der Raum, den er bei seiner Ankunft nur in der Dunkelheit ertastet hatte, war noch prächtiger als die anderen, über und über mit Blattgold verziert, mit unterschiedlichsten Darstellungen des Gottes Thot. Möbelstücke, Stühle, Hocker, kleine Statuen, Körbe und Krüge standen schon bereit, um den Verstorbenen auf seiner letzten Reise zu begleiten.
Sam untersuchte den großen Steinblock in der Mitte, auf dem bald der Sarkophag seinen Platz finden würde. An seinem Fuß war eine Art Grenzstein eingraviert, mit einer Sonne und sechs überlangen Strahlen, die nach unten wiesen. Die ägyptische Version des Sonnensteins . . . Sein Atem ging schneller, er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Der Skarabäus in seiner Hand fühlte sich warm an. Er legte ihn in die Mitte der Sonnenscheibe und sprach ein improvisiertes Gebet: »Jemand möge an mich denken! Jemand möge an mich denken!«
9.
Familienrat
Das brennende Gefühl in seinem Körper ließ allmählich nach. Ein paar Meter von ihm entfernt, ertönte ein gellender Schrei.
»Samuel?«
Der Zementstaub unter seinen Händen fühlte sich vertraut an, ebenso wie der typische Geruch von altem Papier.
»Samuel?«
Der Keller ... er war wieder zurück!
Eine konfuse Mischung aus Rührung und Übelkeit schlug wie eine Welle über seinem Kopf zusammen. Er rollte sich mit angezogenen Beinen auf die Seite und wurde von Husten und Weinkrämpfen geschüttelt.
»Sammy!«
Er spürte eine Hand auf der Schulter.
»Sammy!«
Die Hand gehörte Lili. Niemals, nicht in seinen verrücktesten Träumen, hätte er je geglaubt, dass er einmal so glücklich wäre, seine Cousine zu sehen! »Lili! Du warst es . . . Du hast an mich gedacht?«, stammelte er zwischen zwei Hustenanfällen.
»Sammy, wie bist du . . .?«
Vor lauter Überraschung waren ihre Augen ebenso kugelrund und weit aufgerissen wie ihr Mund.
»Sammy, wie bist du . . .?«
Es kam ihm vor, als wiederhole sie alles, zweimal die gleiche Frage, selbst zweimal dieselbe Mimik, als hätte jemand den Film zurückgespult.
»Ist schon gut, Lili, ich höre dich!«
Sie half ihm auf die Beine und stützte ihn, bis er am Bett war, wobei sie jede ihrer Gesten wiederholte – ihm den Arm entgegenstreckte, wieder zurückzog, wieder ausstreckte – Sam brauchte gute zwei Minuten, bis ihm klar wurde, dass es nicht an ihr lag, sondern an seiner eigenen Wahrnehmung: Er sah jede Bewegung wie durch ein Echo verdoppelt, wie ein Schrei in einem leeren Raum, der von allen Seiten zurückgeworfen wurde. Diese Zeitreisen mussten seine Wahrnehmung verändert haben, daher dieses Gefühl
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