Die steinerne Pforte
von Wiederholung, dieser Dejà-vu-Effekt.
Nachdem er eine Weile gesessen hatte, schien die Wirkung jedoch nachzulassen. Lili kniete vor ihm und beobachtete ihn verstört.
»Aber, Sammy, wo warst du denn die ganze Zeit? Wie bist du hierher gekommen? Hier war niemand, ich war ganz allein!«
Sam fuhr sich übers Gesicht. Nein, er träumte nicht: Da war der Keller, das Feldbett, das kleine Nachtlicht . . . Während er sich umsah, bemerkte er, dass er immer noch den Lendenschurz trug. Die Jeans und sein T-Shirt lagen zusammengefaltet auf dem Kopfkissen. Er verstand überhaupt nichts mehr, außer dass er tatsächlich wieder zu Hause angekommen war.
»Welcher . . . welcher Tag ist heute?«
»Sonntag.« Lili warf einen Blick auf ihre Uhr. »Sonntag, der 6. Juni, 17 Uhr 12.«
Sonntag! Nur ein Tag war vergangen! Dabei war er mindestens eine Woche weg gewesen!
»Wirst du mir jetzt endlich erklären, was los ist, Sammy, ja oder nein? Seit gestern Abend suchen dich alle! Grandma ist außer sich! Sogar die Polizei ist eingeschaltet! Wir haben gedacht, du wärst abgehauen oder was weiß ich!«
»Die Polizei . . .«, brachte Sam heraus. »Und Papa?«
Lili zögerte einen Moment.
»Keine Nachricht von deinem Vater«, gab sie schließlich zu. »Gut, wenn du willst, kannst du hier ein bisschen ausruhen. Ich rufe Grandma an. Sie wird uns mit dem Auto abholen und . . .«
»Nein, Lili, warte. Nicht Grandma . . . nicht die Polizei . . . Hör mir erst mal zu.«
Und er fing an zu erzählen. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, zu viel hatte sich in ihm angestaut. Er redete und redete, wollte gar nicht wieder aufhören . . . Wie er den Stein hinter dem Wandbehang entdeckt hatte, wie der ihn nach Iona gebracht hatte, das Kloster, die Wikinger, seine Flucht, das zerstörte Dorf von Fleury, die Bombardements, der Korporal Chartrel, wie er danach im Grabmal von Setni gelandet war, das Dorf Set-Maat, der Tempel der Millionen Jahre und so weiter . . .
Lili starrte ihn die ganze Zeit mit offenem Mund an und stieß von Zeit zu Zeit ungläubig so etwas wie »Hieroglyphen?« oder begeistert »Mensch, cool!« aus.
Erleichtert stellte er fest, dass sie ihn nicht für einen totalen Spinner hielt.
»Der Tempel der Millionen Jahre, sagst du?«, fragte sie, als er geendet hatte. »Hast du das hier gelesen?«
Sie zeigte auf das große rote Buch mit dem dicken Einband, das er am Tag zuvor neben dem Bett gefunden hatte.
Das Buch war bei einem Kapitel aufgeschlagen mit dem Titel »Theben, die Stadt der hundert Tore«. Eine etwas angestaubte Radierung zeigte den Tempel des Ramses -Ramses III., erfuhr Sam bei dieser Gelegenheit –, wie man ihn wohl zu Beginn des letzten Jahrhunderts besichtigen konnte: eine Ruine, zum Teil unter Sandwehen vergraben, die riesige Schutzmauer und die Säulen, die nach dreitausend Jahren Vergessenheit wieder ans Tageslicht gebracht worden waren.
»Da war ich«, seufzte Sam, »genau da! Glaubst du mir?«
Lili sah ihn fest an: »Ich weiß nicht, wo du sonst diese Shorts und diese Sandalen ausgegraben haben solltest! Deine Sachen lagen alle auf dem Boden, dahinten. Ich habe sie aufs Bett gelegt. Und da war diese Münze . . .«
Sie streckte ihm das Geldstück mit den arabischen Schriftzeichen und dem Loch in der Mitte entgegen, das ihn auf seine erste Reise gebracht hatte.
»Sie lag neben dem Sonnenstein, wie du ihn genannt hast. . .«
Samuel nickte langsam. Zu viele widersprüchliche Gefühle stürmten auf ihn ein.
»Du glaubst mir also?«
»Natürlich glaube ich dir, Sammy! Ich bin doch schließlich deine Cousine, oder? Außerdem hast du noch nicht alles gesehen! Hier!«
Vor seinen Augen blätterte sie die Seiten des Buches um: 70, 72, 74 . .. Die Doppelseiten waren alle identisch! Hundertmal, zweihundertmal »Theben die Stadt der hundert Tore«! Dieselbe Abbildung vom Tempel der Millionen Jahre, derselbe Text über Ramses III.! Wie ein einziger großer Fehldruck!
»Aber... aber gestern war das nicht so!«, rief Sam aus. »Als ich das Buch aufgeschlagen habe, handelte es von einem gewissen Vlad Tepes, einem blutrünstigen Tyrannen aus der Malachei oder Walachei, ich erinnere mich nicht mehr.«
»Das ganze Buch?«
»Nein, jedenfalls . . . ich weiß nicht. Ich habe nur eine einzige Seite angeschaut.«
»Also könntest du nicht mit Sicherheit sagen, dass sie gestern nicht auch alle identisch waren?«
»Darauf habe ich nicht geachtet, ich hatte gerade die Kammer entdeckt und . . . Und du«, fiel ihm
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