Die steinerne Pforte
weiß Max etwas darüber!«
»Max?«
»Er wohnt neben dem Buchladen. Mein Vater hat mit ihm telefoniert, kurz bevor er verschwand. Vielleicht hat er ihm gesagt, was er vorhatte? Oder einen Hinweis hinterlassen oder ich weiß nicht was! Wir müssen mit ihm reden ... Bei der Gelegenheit können wir noch einmal in den Keller gehen, um zu sehen, ob das Buch der Zeit nicht vielleicht etwas Neues zeigt.« Samuel sprang auf und packte Lilis Arm.
»Komm!«
»Aber . . . mein Tanzen?«
»Ich brauche dich, Lili. Es geht um meinen Vater!«
Die Barnboimstraße war genauso einladend und lebendig wie immer – kein Auto, kein Fußgänger, nicht einmal eine streunende Katze weit und breit. Samuel drückte bereits zum dritten Mal ausdauernd auf den Klingelknopf.
»Max! Maaax!«
»Er ist vielleicht nicht zu Hause«, meinte Lili.
»Hast du eine Ahnung! Er ist nur stocktaub! Maaaax!«
Als sich die Tür endlich öffnete, blinzelte Max ihnen völlig verschlafen im fadenscheinigen Nachthemd mit zerzaustem Schnurrbart entgegen.
»Samuel Faulkner, potz Blitz! Und wer ist diese junge Dame?«
»Das ist meine Cousine.«
»Deine Freundin? Na, Glückwunsch, mein Junge, sie sieht ziemlich nett aus!«
»Nein, nicht meine Freundin, meine Cousine«, berichtigte Sam.
»Flotte Biene, ja, ja, das sieht man ... Und wie heißt sie?«
»LILI!«, brüllte sie aus vollem Hals, rot wie eine Tomate.
»Lili! Passt genau, dieser Name, Lili. Aber du brauchst nicht zu schreien, ich bin ja nicht taub! Wollt ihr nicht was trinken? Das muss doch gefeiert werden!« Sie folgten Max in die Küche, wo sich seit mindestens vierzig Jahren nichts verändert hatte: Tisch und Stühle aus Formica, ein weißer Kühlschrank mit abgerundeten Ecken, ein angestoßenes Emaillespülbecken mit einem Wasserhahn aus Kupfer, an der Wand eine Tellersammlung – ein ganzer Satz, den er an einer Tankstelle gewonnen hatte – und auf den Regalen vergilbtes Gemüse aus Plastik.
»Mögt ihr Freshh!?«
Das war immer der heikelste Moment, wenn man Max besuchte. Vor zwanzig Jahren musste er einmal mehrere Kisten Freshh! gekauft haben, eine aromatisierte Limonade, die inzwischen glücklicherweise aus den Regalen verschwunden war. Er war bestimmt der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der noch ein paar Flaschen davon besaß -und sie immer wieder hartnäckig seinen Besuchern anbot! Leider rührte er selbst das Zeug nie an: »Ich nehme lieber einen Whiskey«, entschuldigte er sich jedes Mal, »diese Kohlensäure ist nichts für mich.« Allerdings war durch das jahrzehntelange Stehen davon ohnehin nichts mehr übrig. Und da er außer Sam nie andere Kinder zu Besuch hatte ...
Max holte drei Gläser aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch.
»Ich glaube, ich nehme lieber doch einen Whiskey«, überlegte er laut. »Diese Limonade . . .«
Er füllte ihre Gläser großzügig mit einer gelben Flüssigkeit, in der Zuckerkristalle herumschwammen, während er sich selbst einen guten Schluck Whiskey genehmigte. Samuel machte Lili ein Zeichen, dass sie zumindestens so tun sollte, als würde sie trinken.
»Ach, übrigens, Sam, der Buchladen ist jetzt schon eine ganze Weile geschlossen. Ist dein Vater noch nicht aus dem Urlaub zurück?«
»Nein, leider nicht, Max, genau darüber wollten wir mit Ihnen sprechen. Wir haben seit dreizehn Tagen nichts von ihm gehört.«
»Seit dreizehn Tagen gestört? Der Fernsehempfang? Das ist sicher ärgerlich, mein Junge, aber ich sehe nicht, was das mit deinem Vater zu tun hat?«
»Er ist vor dreizehn Tagen verschwunden«, brüllte Sam. »Deswegen wollten wir mit Ihnen sprechen.«
»Langsam, langsam, mein Junge, kein Grund, sich so aufzuregen! Ich weiß ja, dass ich in letzter Zeit etwas auf den Ohren sitze, aber . . . Wartet mal . . .«
Er ging ins Wohnzimmer. Samuel nutzte die Gelegenheit und leerte schnell ihre Gläser in den Ausguss. Der gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, als wollte das Abflussrohr mit lautem Geglucker protestieren.
»Das schmeckt ja widerlich!«, flüsterte Lili.
»Aber es ist ein guter Rohrreiniger!«
Max kehrte mit einer kleinen Holzschatulle zurück. »Erinnerung an Acadia« stand auf dem Deckel.
»Habe ich aus Rustico mitgebracht. Wir haben dort eine Woche verbracht, 1947, mit meinem Bruder. Die schönsten Ferien meines Lebens.«
Er nahm ein gebogenes Kupferrohr heraus, das an einem Ende geformt war wie eine Trompetenöffnung, und hielt es sich ans Ohr.
»Schieß los, mein Junge, jetzt müsste es besser
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