Die steinerne Pforte
Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf den Kreis und die Vertiefungen.
»Eine Art Sonne, ja. Es muss etwas mit der ägyptischen Religion zu haben.«
»Und dieses Loch da unten? Soll man da vielleicht etwas hineinlegen? Einen Gegenstand, oder . . .«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Sam, der spürte, wie ihn allmählich der Mut verließ. »Sei jetzt still und komm nicht zu nah.«
Das Metall in seiner Hand erwärmte sich, und die Stimme seiner Cousine klang wie aus weiter Ferne. Er konzentrierte sich auf den Stein und platzierte die Münze vorsichtig in der Mitte der Sonne. Das gleiche Grummeln ertönte, und das gleiche Zittern war zu spüren wie beim ersten Mal.
»Sammy? Sammy, hörst du mich?«, rief Lili wie von der anderen Seite der Mauer. Man müsste versuchen . . . Samuel legte die Hand auf die Rundung des Steins, und nach ein paar Sekunden durchfuhr eine teuflische Hitze seinen Körper.
12.
Die Gilde der Bildermacher
Samuel hob langsam den Kopf und unterdrückte nur mit Mühe einen Schluckauf. Die Kellerwände waren verschwunden, stattdessen fand er sich inmitten eines Friedhofs wieder, zu Füßen eines grauen Grabmals, das von einer dicken Schneeschicht bedeckt war. Es gab keine Inschrift auf dem Grabstein, doch in den abgerundeten Sockel des Kreuzes waren vertraute Zeichen geritzt: die Sonne, die Einkerbungen, die Nische . . .
»Lili«, murmelte er und wischte sich über den Mund, »Lili hatte recht!«
In der Mitte der Vertiefung prangte das Handy seiner Cousine! Sie musste nach dem Erstbesten gegriffen und es dort hineingelegt haben. Samuel nahm es vorsichtig heraus: Offenbar hatte es die Hitze unbeschadet überstanden. Das Display leuchtete und zeigte das Datum an: Donnerstag, 10. Juni, 17:42. Dem grauen Himmel, dem Schnee und dem eisigen Wind nach zu urteilen, herrschte dort, wo Sam gelandet war, eher Winter. Demnach hatte sich die ursprüngliche Einstellung des Telefons nicht verändert. Am liebsten hätte Sam irgendeine Nummer gewählt, doch es blinkte das Symbol »kein Netz«. Auf jeden Fall war damit bewiesen, dass Lili mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte: Die Vertiefung diente dazu, Dinge zu transportieren. Und sein Vater hatte sie wahrscheinlich benutzt, um seine Bücher mitzubringen!
Samuel kam auf die Beine. Der Friedhof schien verlassen. Er war nicht sehr groß, knapp hundert Gräber vielleicht, von einer hohen Mauer und einer kleinen Kapelle abgegrenzt. Hinter den verschneiten Bäumen erkannte man eine leicht wellige Kette kleiner Hügel, die aussahen wie halb zerflossene Vanilleeiskugeln. Doch vom Schloss des Vlad Tepes gab es weit und breit keine Spur. Sollte die Münze mit der Schlange ihn an den falschen Ort gebracht haben?
Fröstelnd ging Samuel auf die kleine Kapelle zu. Im Vorbeigehen wischte er den Schnee von ein paar Grabsteinen: Gustav Veken, 1389-1427; Petrus van Hoot, 1368-1411; Marga Waagen, 1359-1429, und so weiter. Fremd klingende Namen, obwohl er natürlich nicht beurteilen konnte, ob das »Walachisch« war oder nicht. . . Das jüngste Grab war von 1429, und wenn er sich richtig erinnerte, war dieser Vlad Tepes 1429 geboren. Es war schwer, daraus schlau zu werden . . .
Gerade wollte er, in der Hoffnung, sich dort drinnen etwas aufwärmen zu können, die Tür zur Kapelle öffnen, als er ein ersticktes Geräusch hörte, das wie ein Schluchzen klang. Schnell versteckte er sich hinter dem nächsten Grabstein. Ein ältlicher Mann und ein junges Mädchen kamen hinter der Kapelle vor. Die Spuren, die der Schnee auf ihren langen Pelzmänteln hinterlassen hatte, legten die Vermutung nahe, dass sie vor einem der Gräber im Schnee gekniet hatten. Der Mann blickte sehr ernst drein, und das Mädchen hatte das Gesicht in einem Taschentuch vergraben. Als sie es beiseite nahm, spürte Sam, wie sein Herz aussetzte, so unglaublich schön war sie. Große schwarze Augen, blasse Haut, eine fein geschnittene Nase, geschwungene Lippen . . . Sam wurde beinahe schwindelig: Obwohl sie älter war und man ihre Gestalt unter dem langen Mantel schlecht erkennen konnte, hatte sie unglaubliche Ähnlichkeit mit Alicia Todds! Seiner Alicia!
Der Mann – wahrscheinlich ihr Vater – legte ihr beruhigend seine Hand auf den Rücken.
»Weine nicht, Yser, es war Gottes Wille.«
Samuel beobachtete, wie die beiden auf das eiserne Tor zugingen, und überlegte, wie er sich verhalten sollte. Ihnen gegenübertreten? Sie fragen, in welcher Zeit und an welchem Ort er sich befand? Wo das Schloss
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