Die steinerne Pforte
einigen Minuten in einem wunderbaren Kleid aus schwarzem Samt. Sie setzte sich auf einen Sessel mit vergoldeten Armlehnen, direkt vor die Staffelei. Ohne ein Wort nahm sie ihre Pose ein, und Sam begann, die Farben zu mischen. Er wählte einen Pinsel, und sobald ihm das gelbliche Rosé hell genug erschien, begann er mit den Händen des jungen Mädchens. Seine eigenen zitterten, während er die ersten Farbschichten auftrug, doch als die zarten, feingliedrigen Finger auf der Leinwand Gestalt annahmen, wurde er immer sicherer. Er wagte sogar, sie anzusehen, wie ein Maler, der versucht, den Ausdruck seines Modells einzufangen. Ihre Ähnlichkeit mit Alicia Todds verstörte ihn immer noch – eine siebzehnjährige Alicia, reifer, mit etwas runderer Augenform und ernsterem Gesicht. Nachdem sie ihm eine halbe Stunde schweigsam gegenübergesessen hatte, brach Yser schließlich das Eis:
»Ihr seid wirklich ein seltsamer junger Mann, Herr Waagen. Ihr taucht auf dem Friedhof auf, um uns zu retten, Ihr versetzt meinen Vater in einen Glückszustand, weil Ihr ihm ein, wie auch immer geartetes, Rezept verratet, und jetzt könnt Ihr auch noch malen!«
Samuel war nicht sicher, ob das jetzt ein Kompliment sein sollte.
»Man könnte meinen, Ihr wärt genauso misstrauisch wie der Vogt!«
»Der Vogt? War er hier?«
»Ja, vorhin. Ich glaube, er wollte zu Euch. Er hat sogar ein Geschenk für Euch gebracht.«
Samuel bemerkte, wie sich die Hände des jungen Mädchens leicht verkrampften.
»Euer Vater sagte, Ihr hättet vor, Euch mit ihm zu verheiraten?«
»Das ist sein Wille«, antwortete Yser etwas leiser.
»Euer Wunsch ist es nicht?«
»Eine Tochter hat ihrem Vater zu gehorchen, nicht wahr?«
In ihrer Stimme lag so viel Wärme wie im eisigen Wasser des Kanals. Samuel fragte nicht weiter. Er reinigte seinen Pinsel und gab einen Tropfen Flüssigkeit in die dunklen Farben auf der Palette. Er brauchte ein tiefes Schwarz, das gleichzeitig den samtigen Stoff des Kleides wiedergab. Ein etwas dickflüssiges Schwarz mit leichtem Hang zum Violett wäre ideal.
»Werdet Ihr lange bei uns bleiben?«, fragte Yser nach einer Weile.
»Nicht sehr lange, keine Sorge. Nur bis . . . bis ich etwas Geld verdient habe.«
»Indem Ihr den Kran dreht?«
»Wenn ich keine andere Möglichkeit habe . . .«
»Man sagt, die kranekinders wären keine besonders gute Gesellschaft. Einige von ihnen sollen nichts weiter als kleine Diebe sein.«
Auch sie hielt ihn für einen Komplizen der Banditen auf dem Friedhof! Das schien eine fixe Idee zu sein!
»Darf ich Euch daran erinnern, dass es Euer Vater war, der vorschlug, am Hafen Arbeit zu suchen? Ich bin gerade erst in Brügge angekommen, ich kenne hier niemanden. Und vor allem nicht die, die Euch gestern überfallen haben, falls es das ist, worauf Ihr hinauswollt.«
Yser schien einen Moment nachzudenken.
»Das will ich Euch gern glauben, Samuel«, sagte sie schließlich.
Baltus befand sich in hellster Aufregung: Seit dem Abendessen wirbelte er bereits gut drei Stunden um sein Öfchen herum, legte hier etwas Holz nach, gab dort ein wenig Öl und Terpentin hinzu und rührte wie der Chefkoch höchstpersönlich in seiner Mixtur. Diese strömte mittlerweile einen Geruch aus, bei dem einem übel werden konnte, weshalb sie gezwungen waren, trotz der eisigen Temperaturen die Fenster weit geöffnet zu lassen. Sam hatte bereits steife Finger vor Kälte und den Kragen bis zur Nasenspitze hochgeschlagen. Er gab sich alle Mühe, aufmerksam zu erscheinen, obwohl er nur einen Wunsch hatte: zu schlafen. Doch er hatte noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen, und es wäre unhöflich gewesen, seine Ungeduld zu zeigen.
»Wir haben es geschafft!«, rief Baltus begeistert. »Seht nur die Farbe dieser Masse! Und die Öligkeit! Ich glaube, ich bin kurz vor dem Ziel! Bringt mir den Glasbehälter, bitte.«
Samuel gehorchte wie ein ferngesteuertes Wesen. Der alte Mann stellte das flaschenähnliche Gefäß auf die Ecke des Ofens und steckte einen Trichter in die Öffnung. Dann goss er vorsichtig den Inhalt des Topfes hinein, eine bernsteinfarbene Flüssigkeit, deren Dämpfe in den Augen brannten.
»Fertig! Jetzt lassen wir alles bis morgen abkühlen. Ich werde es durch ein kleines Sieb filtern und ein zweites Mal erhitzen. Dann . . .«
Er strahlte wie ein kleines Kind.
»Und dann werde ich einen ersten Versuch mit der Farbe machen. Und so Gott will... Aber ich habe Euch für heute genug belästigt, mein Junge, es wird Zeit, dass wir
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