Die steinerne Pforte
Baumes hatte und auf seinen geschwungenen Ästen drei Kerzen tragen konnte. Umwerfend!
»Und er ist auf seine Art nicht nur ein Künstler«, fuhr Baltus fort, »sondern auch ein Gelehrter. Sobald ihm seine Aufgaben bei der Stadtverwaltung etwas Zeit lassen, beschäftigt er sich eingehend mit Alchemie. Er hofft, eines Tages vielleicht Gold herstellen zu können! Die Alchemisten sind sehr gebildete Leute, wisst Ihr, interessieren sich für die Wissenschaften und dafür, wie die Welt funktioniert! Und wenn Yser seine Frau werden sollte, so hat er angedeutet, würde er sie gern an seiner Arbeit teilhaben lassen. Ist es nicht besser, einen Ehemann zu haben, der seiner Frau den Horizont der Wissenschaften eröffnet, als einen jungen Dummkopf, der nur darauf aus ist, ihr Kinder zu machen? Nein, der Vogt wäre eine ausgezeichnete Partie und . . .«
Ein Geruch nach Verbranntem drang plötzlich aus dem Flur, und Baltus schlug sich vor die Stirn.
»Heiliger Himmel, mein Öl!«
Er stürzte zum Atelier und riss die Tür auf. Schwarzer Rauch stieg über dem kleinen Ofen auf und verbreitete sich im ganzen Raum.
»Das Fenster! Schnell! Frische Luft!«
Samuel rannte zum Fenster und riss es – nachdem er eine Weile mit dem Mechanismus gekämpft hatte – auf, sodass ein kräftiger Durchzug entstand.
»Mein verfluchter Kopf!«, schrie Baltus. »Ich habe mein Experiment vollkommen vergessen! Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen, weder zum Malen noch zum Experimentieren!«
Er nahm den Kessel mit einem Lappen, trug ihn weit von sich gestreckt zum Fenster und schleuderte ihn nach draußen auf den Hof. Es roch nach verbrannten alten Socken und der Salbe, die man sich bei Bronchitis auf die Brust schmierte.
»Dabei war ich kurz davor! Ich bin sicher, dass ich kurz davor war!«
»War . . . war es denn so wichtig?«, fragte Samuel vorsichtig.
»Seit zwei Jahren, mein Junge, seit zwei Jahren schon versuche ich, van Eycks Geheimnis zu lüften! Wenn es mir gelänge, ein solches Öl herzustellen wie er, würden sich meine Bilder um einiges besser verkaufen!«
Samuel konnte seine Überraschung kaum verbergen.
»Van Eyck, der Maler?«
Miss Delaunay hatte ihnen irgendwann von van Eyck erzählt, ein einziges Mal. Aber Sam hatte ihn nie mit Brügge in Verbindung gebracht.
»Der Maler, ja, wer sonst? Er ist der Lieblingsmaler von Graf Philippe; der schleppt ihn überall mit hin. Vor Kurzem hat er eine neue Technik entwickelt, um seine Farben noch strahlender und leuchtender zu machen. Es sieht aus, als würde das Licht direkt aus dem Gemälde strahlen! Die Wirkung ist faszinierend, und seine Porträts werden von aller Welt bewundert. Jedes seiner Werke erzielt den zwanzigfachen Preis der meinen!« Samuel verkniff sich die Bemerkung, dass van Eyck vielleicht auch zwanzigmal so viel Talent besaß. Immerhin war er laut seiner Kunstlehrerin einer der größten Künstler des Mittelalters.
»Im letzten Jahr«, fuhr der alte Mann fort, »habe ich durch eine Unachtsamkeit seiner Leute zufällig erfahren, dass er, um diese einzigartigen Farben zu erhalten, seinen Pigmenten und seinem Öl eine geheime Substanz zusetzt. Seither versuche ich alles, um herauszufinden, um welche Substanz es sich handeln könnte . . . Glaubt mir, ich habe ganze Nächte vor meinem Öfchen verbracht und alle möglichen Rezepturen ausprobiert! Heute waren es Gewürznelken, und ich hatte das sichere Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein. Aber durch ein solches Missgeschick ist nun alles verdorben! Schuld daran ist van Eyck! Warum muss er ein solches Geheimnis darum machen, anstatt seine Erkenntnisse an die Gilde weiterzugeben!«
Baltus war außer sich und merkte gar nicht, wie blass Sam auf einmal geworden war. Van Eycks Geheimnis . . . Er wusste es, er kannte van Eycks Geheimnis! Miss Delaunay hatte ihnen erklärt, dass van Eyck zwar die Ölmalerei nicht erfunden, aber ihre Technik revolutioniert hatte: sowohl den zerstoßenen Pigmenten, die die Farbtöne bestimmten, als auch dem Öl, mit dem sie vermischt wurden, setzte er eine Substanz zu, die die Leuchtkraft der Farben verstärkte und bewirkte, dass sie leichter zu bearbeiten waren. Und diese geheimnisvolle Substanz . . .
Zum ersten Mal bei einer seiner »Reisen« befand Sam sich in einem Gewissenskonflikt: Durfte er Baltus van Eycks Geheimnis verraten? Riskierte er damit nicht, in den Lauf der Geschichte einzugreifen? Er hatte schon eine Menge Filme gesehen, in denen die Veränderung eines winzigen Details der
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