Die steinerne Pforte
gerechnet: Er zeigte ihm die Innenseite seiner Jacke, wo er mit einem Kohlestift vorsorglich ein Gitter mit beliebigen Zahlen aufgezeichnet hatte.
»Ich habe mein eigenes System. Ich rechne mit den Fingern und hiermit.« »Wie viel ist 543 mal 956?«
Samuel wiederholte das Spiel von vorhin und versteckte sich in seiner Jacke: »519 108«, kam beinahe postwendend die Antwort.
Bartolomeo betrachtete ihn nachdenklich. Dann war seine Entscheidung gefallen.
»Enzo, warum gehst du nicht und schaust dir die Turniere an? Dort sind heute Ritter aus Italien . . . Wenn es fünf schlägt, kommst du zurück, capito?«
Der Neffe ließ sich nicht lange bitten. Als er Sam seinen Platz überließ, raunte er ihm zu: »Danke! Meinetwegen könnt Ihr jeden Nachmittag kommen, wenn Ihr wollt.«
Samuel setzte sich vor den Tisch mit Jetons, sodass er sich von der Seite an die Mauer lehnen konnte, um das Handy vor fremden Blicken zu schützen. Die erste Hürde war genommen.
»Enzo ist mein Neffe. Er ist ein guter Rechner, aber er ist langsam wie eine Schnecke! Und ich habe nicht mehr so gute Augen wie vor zwanzig Jahren, ich brauche Hilfe. Wenn ich jemanden wie dich jeden Tag hier hätte . . .«
Er senkte die Stimme, damit nicht alle mithören konnten: »Wie viel verlangst du, Kleiner?«
»Es ist so . . .«, begann Sam. »Ich suche eine spezielle Münze. Eine mit einem Loch in der Mitte. Hättet Ihr vielleicht so eine?«
Bartolomeo kratzte sich am Kopf: Das schien wirklich ein seltsames Kerlchen zu sein! Er beugte sich über seine Kassette und kramte einen Augenblick dann herum. »Ich glaube, ich habe ein oder zwei von einem Pelzhändler bekommen. Ich hatte wohl gerade meinen gutmütigen Tag, aber hinterher hätte ich mich in den Hintern beißen mögen: Niemand will diese ungarischen Münzen, oder aus welcher entlegenen Gegend sie auch immer stammen, haben.«
Er hielt zwei schmutzig gelbe, stumpfe, runde Metallstücke hoch – aus Kupfer? Sie schienen die richtige Größe zu haben, und vor allem hatten sie ein Loch in der Mitte. Bingo!
»Wenn du deine Sache gut machst, kannst du beide haben, Kleiner.«
Samuel schauderte vor Aufregung. Er hatte es gleich gewusst: Die Münzen waren beim Geldwechsler zu finden! Nur noch ein paar Rechenaufgaben, und dann . . .
Da kam auch schon der nächste Kunde mit einem ledernen Geldbeutel, den er auf den Tresen leerte.
»Ich habe 1000 Gulden für dich, Bartolomeo. Mach mir einen guten Preis, aber schnell, bevor die Stoffhalle schließt!«
An die hundert Multiplikationen, ebenso viele Divisionen, zig Additionen und Subtraktionen, dazu noch einige Prozentrechnungen – Mrs Cubert wäre stolz auf ihn gewesen. Noch nie hatte Samuel in Mathematik solchen Eifer an den Tag gelegt! Ein- oder zweimal hatte er leichte Schwierigkeiten gehabt – etwa mit dem Gros aus Straßburg –, aber Bartolomeo hatte sich geduldig gezeigt, schließlich sei Rom auch nicht an einem Tag erbaut worden. Samuels Rechenkünste hatten sogar ein paar Schaulustige angelockt, die seine schnellen Ergebnisse mit begeistertem Applaus quittierten. Sicher hätte Sam als »Kalkulator« eine steile Karriere vor sich gehabt, zumindest solange der Akku des Handys durchhielte. Irgendwann begann der Strom der Händler jedoch abzuebben, und Bartolomeo entschied, für den Tag Schluss zu machen. Er schlug Sam vor, doch am nächsten Tag wieder zu kommen, und zeigte ihm noch weitere seltene Münzen – die er wahrscheinlich gern loswerden wollte –, doch Sam reagierte ausweichend. Sobald er die beiden runden Metallstücke in der Hand hielt und sich überzeugt hatte, dass sie – ungefähr – den richtigen Durchmesser hatten, bat er den Wechsler noch um einen Gefallen: »Dieses Papier möchte ich Euch gern noch zeigen, Herr Bartolomeo. Man hat es mir gegeben, aber ich habe nicht alles verstanden.«
Er reichte ihm den Zettel, den er in Melchiors Geheimtasche entdeckt hatte. Bartolomeo rückte sein Lorgnon auf der Nase zurecht und begann zu lesen: »›Brügge, den 7.Januar. Der Überbringer erhält auf mein Konto beim Bankier Grimaldi 3 Pfund und 12 Sol, auszuzahlen ab dem 11. Ohne Bezeugung meinerseits und gemäß guter Ausführung der Mission. Gott schütze Euch. ‹ Das ist ein Orderwechsel.«
»Ein Orderwechsel?«
»Si. Derjenige, der den Wechsel ausgestellt hat, hat ein Konto beim Bankier Grimaldi, und der, dem er das Papier gegeben hat, kann damit drei Pfund und zwölf Sol abholen.«
»Und der Überbringer?«
»Der Überbringer? Ma,
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