Die steinerne Pforte
uns schlafen legen.«
Er deckte den Glasflakon mit einem feuchten Tuch ab und löschte die Kerzen, während Sam das Fenster zumachte.
»Gute Nacht, Samuel Waagen, und danke für das Terpentin aus Venedig!«
Samuel tat so, als ginge er direkt in seine Kammer, doch sobald das Licht des alten Mannes im oberen Stockwerk verschwunden war, machte er kehrt. Er brauchte ein Werkzeug, mit dem man Stoff oder Leder schneiden konnte. Eine Schere fand er zwar nicht, dafür aber zwei scharfe Messer. In der Dunkelheit hatte Ysers Porträt etwas Unheimliches, aber Samuel war dennoch stolz auf die Hände des Mädchens: Fast hätte man meinen können, Baltus hätte sie gemalt. Fast. . .
In seiner Kammer holte er das Handy aus seinem Versteck über einem Balken und sah auf das Datum: Donnerstag 10. Juni, 23:11. Ungefähr vor sechs Stunden hatte er seine eigene Zeit verlassen . . . Das ging gerade noch, obwohl Grandma bestimmt schon vor Angst im Dreieck sprang und Lili sich zweifelsohne auch langsam Sorgen machte. Hauptsache, sie hörte nicht auf, an ihn zu denken!
Samuel konzentrierte sich auf die verschiedenen Funktionen des Handys. Er hatte sich für den nächsten Tag einiges vorgenommen: Als Erstes, Fotos von der Stadt zu machen. Das verschneite Brügge um 1430 auf einer Fotografie, unfassbar! Aber dabei würde er natürlich äußerst diskret vorgehen müssen. Wenn man ihn mit diesem Gerät erwischte, landete er mit Sicherheit entweder im Gefängnis oder auf dem Scheiterhaufen. Er zog seine Sachen aus und untersuchte die Jacke, die er sich am Tag vorher von einem der Wegelagerer »geliehen« hatte – Melchior, nach dem, was die beiden kranekinders erzählt hatten. Es war eine Lederjacke mit eingenähtem Wollfutter. Vielleicht konnte er eine kleine Tasche hineinschneiden und das Handy hineinstecken, dazu eine kleine Öffnung, um es unbemerkt zu bedienen? Wenn nötig, könnte er die Magd gleich morgen früh um Nadel und Faden bitten.
Sam untersuchte die Innenseite der Jacke nach einer geeigneten Stelle. Er stieß auf ein kaum sichtbares Loch unter dem linken Ärmel: Die Jacke hatte bereits eine Tasche! Er steckte zwei Finger in das dicke Futter: Da war auf jeden Fall genug Platz für ein Handy, wenn er den oberen Teil etwas erweiterte und . . . Plötzlich fühlte er Papier zwischen den Fingern. Ein sorgfältig zusammengerolltes Stück Papier... Er zog es ans Licht und faltete es auseinander. Die Schrift war kaum zu lesen, und erst nach mehreren Anläufen hatte er sie entziffert:
Im Namen des Herrn, Amen. Brügge, den 7. Januar. Der Überbringer erhält auf mein Konto beim Bankier Grimaldi 3 Pfund und 12 Sol, auszuzahlen ab dem 11. Ohne Bezeugung meinerseits und gemäß guter Ausführung der Mission. Gott schütze Euch.
Es gab auch eine Unterschrift, die aber noch unleserlicher war als der Rest. Was bedeutete dieser Text? Es war von Geld die Rede, von einem Bankier namens Grimaldi, von einem Überbringer, einer Bezeugung, einer Mission . . . Alles offenbar in Bezug auf ein Ereignis in diesen Tagen.
Hatte besagter Melchior das Papier einem seiner Opfer gestohlen, in der Hoffnung, ein paar Münzen dabei herauszuschlagen? Samuel hatte ohnehin vorgehabt, am nächsten Tag noch einmal zum Platz der Börse zu gehen. Wenn ein Bankier in die Geschichte verwickelt sein sollte, so könnte er dort womöglich mehr darüber herausfinden. Und dann hatte er noch eine andere Idee . . .
Samuel gähnte so herzhaft, dass er sich um ein Haar den Kiefer ausgerenkt hätte. Dieses Loch kam ihm wie gerufen, es hatte ihm viel Zeit erspart. Mit dem schärferen der beiden Messer schnitt er ins Leder ein etwa vier mal vier Zentimeter großes Fenster, das ihm erlauben würde, unauffällig ein paar Fotos zu machen. Und wenn die Aufnahmen nichts taugten, konnte er sie immer noch löschen und noch einmal von vorn anfangen. Das waren die Zauberkunststücke des XXI. Jahrhunderts!
Zufrieden kuschelte er sich unter seine Decken. Endlich schlafen! Ihm war, als hörte er von der Eingangstür her ein Geräusch, aber er war zu erschöpft, um auch nur ein Auge zu öffnen.
15.
Drei Pfund und zwölf Sol
»Was sein muss, muss sein«, machte Sam sich selbst Mut und holte tief Luft.
Entschlossenen Schrittes überquerte er den Platz der Börse und mischte sich unter die Menge der Händler und Passanten. Es war etwas wärmer geworden, und der Schnee auf dem Kopfsteinpflaster begann zu schmelzen, wurde von den unzähligen Schuhen und Stiefeln zu einem schmutzig
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