Die Steinernen Drachen (German Edition)
schlaffen Tentakeln, die sich tiefschwarz gegen den Nachthimmel abzeichneten.
Es war Chin. „Wo treibst du dich rum?“
„Werde ich kontrolliert?“
Er hörte ein Schmunzeln und stellte sich dabei ihren sinnlichen Mund vor, wie die vollen Lippen horizontal auseinander driften und zum vollendeten Lächeln geformt werden. Mit einem Schlag verpufften die Geisterfrauen in seinem Kopf.
„Nicht von mir“, antwortete sie, „aber es ist schließlich mitten in der Nacht.“
„Was dich wiederum nicht davon abhält mich anzurufen. Ich hätte schlafen können. Etwas, was ich zu dieser unchristlichen Zeit auch von dir erwartet hätte.“
„Wenn man in der Welt herumtelefoniert, muss man manchmal die eine oder andere Nacht opfern, um Menschen zu erreichen, die in anderen Zeitzonen leben. Dafür bekommen wir jetzt Visa für unsere Einreise nach Laos. Ich brauche nur noch ein Passbild von dir.“
Ihr Engagement in dieser fragwürdigen Sache erstaunte ihn aufs Neue und er bewunderte diese Hartnäckigkeit. Seit ihrem ersten Gespräch hatte sich Chin in diese Geschichte verbissen wie ein Bullterrier in den Nacken seines Kontrahenten, willens, nie wieder loszulassen.
„Ich habe Passbilder zu Hause, immer in der Hoffnung und für den Fall, dass sich doch einmal eine interessante Stelle als Restaurator für mich auftut, auf die ich mich ohne Verzögerung bewerben kann“, antwortete er ihr. Tief im Inneren wollte er dem Leben als Barmann entkommen und wieder in seinen geliebten Job zurückkehren. Dies Gedanken behielt er für sich und fragte sie, ob er ein Foto vorbeibringen solle.
„Nicht mehr heute Nacht, falls du darauf abzielst. Wenn du nicht schlafen kannst, fahr noch ein bisschen rum, aber sei vorsichtig. Und denk dran, es warten anstrengende Tage auf uns.“
Es entstand eine Pause. Er hörte ihren gleichmäßigen Atem über das Handy. „Ist noch was?“, fragte er verunsichert.
„Im zweiten. Jahrhundert n. Chr. beauftragte der Kaiser der Han-Dynastie den damals größten Maler seiner Zeit, Wu Daozi, einen lebensgetreuen Drachen zu malen“, erzählte Chin. „Der Künstler malte daraufhin einen Drachen ohne Augen. Der Kaiser fragte ihn, warum er die Augen weggelassen hatte, worauf Wu Daozi erwiderte, dass der Drache sonst davon fliegen würde. Die Darstellung der Augen würde dem Tier zu viel Macht verleihen und es würde lebendig werden. Der Kaiser aber gab nicht nach und so malte der Künstler dem Drachen Augen. Der Legende nach flog der Drache wirklich davon.“
„War das jetzt meine Gutenachtgeschichte?“, fragte er, wissend, dass die Vietnamesin auf etwas anderes abzielte.
„Ich wollte nur noch einmal anmerken, dass wir den Drachen nicht außer Acht lassen sollten. Hast du die Zeichnung bei dir?“
„Sie ist in meiner Wohnung. Keine Angst, ich vergesse nicht, sie mitzunehmen.“
Sie verabredeten sich zum Frühstück um zehn Uhr im Café am Marktplatz, dann beendete sie das Gespräch. Die grünen Leuchtziffern oberhalb des Rückspiegels sagten ihm, dass es beinahe ein Uhr war – Zeit, die Heimfahrt anzutreten.
Seine Tage als Barkeeper waren ebenfalls gezählt, also was hielt ihn noch hier? Möglicherweise warteten in einem fernen, exotischen Land alle Antworten auf ihn? Diese Erkenntnis hob für Sekunden seine Stimmung, doch im nächsten Moment überfiel ihn bleischwere Müdigkeit.
Der Wagen rammte ihn auf Höhe der Brücke zum Torturm und schleuderte ihn gegen die parkenden Autos am Flussufer. Mit der Wucht des Aufpralls verflog seine Schläfrigkeit und er war hellwach. Einen Wimpernschlag später schlug er mit seinem Kopf gegen den Türholm und der Nebel der Benommenheit legte sich über seinen Geist. Er kippte nach vorne weg. Ein stechender Schmerz in seiner rechten Seite brachte ihn zurück an die Oberfläche, ehe er gänzlich in das erlösende Dunkel hinabsinken konnte. Es waren keine drei Sekunden vergangen, seit sich der PKW, wie aus dem Nichts, in die rechte Seite seines Volvos gebohrt hatte und die blendenden Scheinwerfer schlagartig erloschen waren. Nach dem Einschlag war das Fahrzeug wie ein Gummiball abgeprallt und in der Dunkelheit verschwunden.
Frank kam es wie eine Ewigkeit vor, bis das Entsetzen über die Situation sein Gehirn erreicht hatte und dieses endlich anfing, Adrenalin auszuschütten. Der Volvo kreiselte unkontrolliert über die Straße und auf die Gegenfahrbahn. Zu seinem Glück im Unglück herrschte während der frühen Morgenstunde kein Verkehr und die Straße war
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