Die steinernen Schatten - Das Marsprojekt ; 4
sich die unterschiedlichsten Menschen zusammenfinden. Ich kenne die Leute nicht, die diese drei Kinder entführt haben, und distanziere mich ausdrücklich von dieser Aktion. Die genannten Forderungen halte ich jedoch für richtig; ich fordere genau dasselbe. In Anbetracht der jüngsten Erkenntnisse über die Existenz fremder, uns offensichtlich seit Urzeiten feindlich gesinnter Intelligenzen dort draußen im All muss es für jeden klar denkenden Menschen auf der Hand liegen, dass es für uns eine Frage auf Leben und Tod ist, alles zu unterlassen, was die Aliens wieder auf uns aufmerksam machen könnte.«
Unter den Marssiedlern machte er sich damit keine Freunde, das stand fest. Er hatte noch nicht ausgeredet, als ihn die ersten ausbuhten – wovon er auf der fernen Erde freilich nichts mitbekam.
»So ein Heuchler!«, rief jemand und ein anderer: »Das ist doch ganz klar ein Manöver, mit dem die ihre Ideen durchsetzen wollen, auf Biegen oder Brechen! Da kann er sich distanzieren, soviel er will.«
»Genau«, meinte eine Frau. »Terror, um Andersdenkende einzuschüchtern. Das kennt man doch alles.«
Wim Van Leer faltete die Hände vor dem Mund, den Blick unverwandt auf Maikhala Singh gerichtet. Dass die Marssiedler von seinen Äußerungen nichts hielten, war nachvollziehbar.
Der Punkt war: Van Leer kannte Chandra Maikhala Singh. Der korpulente Mann war Vorstandsvorsitzender des Medienkonzerns GLC, der seit Jahren unverhohlen Propaganda für die Heimwärtsbewegung machte, und Van Leer hatte zwei Jahre lang in seiner unmittelbaren Umgebung gearbeitet. Er kannte Maikhala Singhs Vorlieben und Abneigungen, seine Launen, seine Art zu denken. Maikhala Singh mochte Ansichten vertreten, die jemandem, der sich der Raumfahrt verschrieben hatte, nicht gefielen, aber Van Leer hatte ihn trotzdem als einen auf seine Art redlichen Menschen erlebt.
Deshalb war er umso mehr erschrocken über den Eindruck, den Maikhala Singh an diesem Abend über den Schirm vermittelt hatte. Man sah es nur, wenn man ihn gut kannte, aber dann war es unübersehbar: Der Mann hatte Angst. Schreckliche Angst. Eine Angst hatte ihn im Griff, die so groß war, dass sie ihn über moralische Bedenken längst hinweggetrieben hatte.
Es war heiß in dem Raum, in dem man sie gefangen hielt. Die Luft war stickig, der Filter der Maske längst eingetrocknet. Sie nützte Elinn nichts mehr, man roch die Tropfen kaum noch, geschweige denn, dass sie etwas bewirkt hätten.
Wenn sie so dalag und keine Luft bekam, dachte sie darüber nach, ob es am Ende einfach darauf hinauslaufen würde, dass sie starb. Ausschließen konnte man das nicht. Im Grunde wunderte es sie, dass sie die Fahrt hierher überlebt hatte.
Es hatte ein fürchterliches Handgemenge mit den Wachleuten gegeben, doch am Ende waren sie von den Entführern überwältigt und gefesselt worden. Zwei Männer waren mit ihnen aus dem Bus gestiegen und nach einer Weile allein zurückgekommen. Dann hatte man Carl, Urs und ihr befohlen, sich zwischen zwei Sitzreihen auf den Boden zu setzen, hatte eine große dunkle Decke über sie geworfen und so hatten sie sitzen bleiben müssen, während der Bus weiterfuhr, endlos lange Zeit. Und sie hatte keine Luft bekommen. Carl hatte sie festgehalten und ihr unentwegt den Rücken gerieben und geklopft, und das, obwohl er selber gezittert hatte. »Es wird alles gut«, hatte er wieder und wieder geflüstert, tausend Mal bestimmt.
Und nun waren sie hier, in einem niedrigen Zimmer mit nackten Betonwänden, das keine Fenster hatte. Ein schwaches Leuchtelement an der Decke war alles, was es an Licht gab, eine Tür ging in eine Toilette mit Waschbecken, eine andere Tür war verschlossen. Die verschlossene Tür hatte ein Guckloch in der Mitte und eine Klappe unten, durch die man ihnen irgendwann ein Tablett mit belegten Broten hereingeschoben hatte. In einer Ecke des Zimmers standen etwa zwanzig Plastikflaschen mit Wasser, von denen man alle Etiketten abgemacht hatte.
Für jeden von ihnen gab es ein Bett, am Boden festgeschraubt und aus Metall. Die Matratzen waren dünn und unbequem und es knarrte und knirschte, sobald man sich bewegte.
Elinn bewegte sich nicht. Sie lag nur da, hielt sich die nutzlos gewordene Maske vors Gesicht und wartete.
»Wir müssen uns was ausdenken«, zischte Urs ab und zu und Carl erwiderte darauf jedes Mal: »Es sind erst ein paar Stunden. Die Polizei wird sie kriegen. Wir müssen Geduld haben.«
Sie aßen die belegten Brote, die fade schmeckten.
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