DIE STERBENDE ERDE
den Glasdeckel nur verschwommen sehen konnte.
»Laß mich frei, Mazirian, und bei meinem Wort als Auserwählter und Oberhaupt der Maram-Or werde ich dir dieses Mädchen ausliefern.«
»Wie wolltest du das schaffen?« erkundigte sich Mazirian mißtrauisch.
»Mit meinen besten Lebenden Stiefeln und einem Kopf voller Zaubersprüchen würde ich ihr in den Wald folgen.«
»Es würde dir nicht besser ergehen als mir«, erwiderte der Magier. »Ich lasse dich frei, sobald du mir deine Formel für die Troggeschöpfe verraten hast. Die Frau verfolge ich lieber selbst.«
Turjan senkte den Kopf, damit der Magier den Blick seiner Augen nicht sehe.
»Und was ist mit mir, Mazirian?« fragte er nach einer kurzen Pause.
»Was meinst du, was ist mit dir?«
»Was ist, wenn du nicht zurückkehrst?«
Mazirian strich über seinen Bart und legte mit einem Lächeln seine schönen weißen Zähne frei. »Der Drache dürfte dich meinetwegen schon jetzt verschlingen, wenn es mir nicht um dein verfluchtes Geheimnis ginge.«
Der Magier stieg die Treppe wieder hoch. Um Mitternacht saß er in seinem Studierzimmer und wälzte dicke ledergebundene Werke und studierte stockfleckige lose Blätter… Früher einmal waren tausend und mehr Schutzrunen, Zaubersprüche, Beschwörungen, Flüche und mächtige Formeln bekannt gewesen. In Großmotholam, in Ascolais, auf der Insel Kauchique, in Almery im Süden und im Land der Fallenden Wand im Osten – überall hatte es dereinst Zauberer aller Arten ohne Zahl gegeben, deren oberster der Erzmagier Phandaal gewesen war. Hundert Zaubersprüche waren allein ihm zu verdanken – angeblich hatten Dämonen ihm bei ihrer Ausführung geholfen. Pontecilla der Fromme, zu der Zeit Herrscher von Großmotholam, setzte seine Foltermeister auf Phandaal an, mit solchem Erfolg, daß dieser ihren Eifer nicht überlebte. Pontecilla verbot noch am gleichen Tag jegliche Art von Zauberei im ganzen Land, woraufhin die Magier aus Großmotholam flohen wie Nachtgeschöpfe vor grellem Licht.
Ihre Künste gingen nach und nach verloren und gerieten in Vergessenheit. Und jetzt in dieser düsteren Zeit, da die Sonne um ihre Kraft gekommen war und die Wildnis sich Ascolais'
immer mehr bemächtigte, da Kaiin halb zerfallen lag, waren der Menschheit kaum noch mehr als hundert Zauber bekannt.
Dreiundsiebzig davon standen Mazirian zur Verfügung, und allmählich würde er durch Schlauheit und Überredungskunst auch die restlichen in seinen Besitz bringen.
Mazirian traf eine Auswahl aus seinen Büchern. Mit größter Willensanstrengung prägte er sich fünf Zaubersprüche ein: Phandaals Kreise, Felojuns Zweiten Hypnotischen Bann, die Exzellente Prismatische Berieselung, die Unversiegliche Stärkung und den Schutz der Allmächtigen Kugel. Nachdem die Worte hafteten, genehmigte sich der Magier noch ein wenig Wein und zog sich zum Schlafen zurück.
Am nächsten Tag, die Sonne stand bereits tief am Himmel, machte Mazirian einen Spaziergang durch seinen Garten. Er mußte nicht lange warten. Als er die Erde um die Wurzeln seiner Mondgeranien auflockerte, verrieten ihm ein sanftes Rascheln und das gedämpfte Stampfen von Hufen, daß die Ersehnte sich näherte.
Sie saß hoch aufgerichtet im Sattel, eine junge Frau von herrlichem Wuchs. Mazirian bückte sich langsam, um sie nicht vorzeitig zu warnen, und schlüpfte in die Lebenden Stiefel, die er über den Knien festschnallte.
Jetzt richtete er sich auf. »Ho, Mädchen!« rief er. »Du bist also wiedergekommen. Was suchst du hier jeden Abend?
Bewunderst du meine Rosen? Ihr Rot ist deshalb so strahlend, weil in ihren Blütenblättern warmes Blut fließt. Wenn du nicht wieder vor mir fliehst, schenke ich dir die schönste der Rosen.«
Mazirian griff nach einer und brach sie vom zitternden Strauch, dann ging er auf die junge Frau zu. Er durfte es sich nicht anmerken lassen, wie sehr er gegen den Drang der Lebenden Stiefel ankämpfen mußte. Doch er hatte erst vier Schritt zurückgelegt, da drückte das Mädchen die Knie in die Rippen ihres Rosses und galoppierte zwischen den Bäumen davon.
Mazirian erlaubte seinen Stiefeln, die Verfolgung aufzunehmen. Sie machten einen Satz, einen zweiten, noch einen, und die Jagd begann.
So betrat Mazirian den berüchtigten Wald.
Moosüberwucherte knorrige Stämme stützten das dichte Laubwerk der schweren Kronen und hohen Wipfel. Hie und da glückte es vereinzelten Sonnenstrahlen, rote Tupfen auf Moos und Gras zu zaubern. Im Schatten drängten sich
Weitere Kostenlose Bücher