DIE STERBENDE ERDE
sich mit erstarrten Beinen um. Sie waren schwer wie Blei, wie in einem Traum, wenn man fliehen will und die Füße einem nicht gehorchen.
Chun sprang aus der Wand. Er kam auf Lian zu. Um seine glänzend schwarzen Schultern trug er einen offenen Umhang aus Seide, mit Menschenaugen besteckt.
Endlich hatte Lian die Lähmung überwunden. Er flitzte, er sprang, er flog. Seine Zehenspitzen berührten kaum den Boden.
Aus der Halle hinaus floh er, über den Platz, hinein in die Wildnis aus zerborstenen Statuen und gestürzten Säulen. Und wie ein Hund rannte Chun ihm nach.
Lian hastete auf einem Mauersims dahin und sprang weit durch die Luft zu einem zerfallenen Brunnen. Und hinter ihm her kam Chun.
Lian schoß durch eine schmale Gasse, kletterte über einen Schutthaufen, ein Dach und hinunter auf einen Hof. Und immer noch verfolgte ihn Chun.
Lian spurtete über eine breite Prunkstraße, an der zu beiden Seiten noch ein paar alte Zypressen wuchsen – und er hörte Chun dicht hinter sich. Er hastete durch einen Torbogen, schob den Bronzereif über Kopf, Schultern und bis zum Boden; stieg hinaus und holte ihn zu sich in die Schwärze. In Sicherheit! Er war allein an einem dunklen, magischen Ort, wo niemand ihn sehen, niemand etwas von ihm ahnen konnte.
Er spürte einen Lufthauch hinter sich und eine Stimme neben ihm sagte: »Ich bin Chun, der Unvermeidbare.«
Lith saß auf ihrem Diwan neben den Kerzen und nähte eine Mütze aus Froschhäuten. Die Tür ihrer Hütte war verriegelt, die Läden vor den Fenstern geschlossen. Draußen lag die Thamberwiese in den Schatten der Nacht.
Ein Scharren an ihrer Tür, ein leichtes Knarren, als die Angeln sich ein ganz kleines bißchen bewegten. Lith erstarrte.
Ihr Blick flog zur Tür.
Eine Stimme sagte: »Heute abend, o Lith, hast du dir zwei lange, leuchtende Fäden verdient. Zwei, weil die Augen so groß, so rund, so golden waren…«
Lith blieb still sitzen. Sie wartete eine Stunde, dann schlich sie auf Zehenspitzen zur Tür und lauschte. Ihr Gefühl sagte ihr, daß sie wieder allein war. Nur das Quaken eines Frosches war zu hören.
Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt, fand die beiden Fäden auf der Schwelle, nahm sie und schloß eilig die Tür.
Aufgeregt rannte sie zum goldenen Teppich und flocht die Fäden in die ausgefranste Reißstelle.
Dann stellte sie sich davor und betrachtete, krank vor Sehnsuch nach Ariventa, das goldene Tal. Unter ihren Tränen verschwammen der friedliche Fluß und der stille Wald. »Er wächst, mein goldener Teppich«, flüsterte sie. »Eines Tages wird er wieder ganz sein, und ich kann nach Hause zurück…«
5. Kapitel
Ulan Dhor
Prinz Kandive, der Goldene, sprach in ernstem Ton zu seinem Neffen, Ulan Dhor. »Es ist also ausgemacht, daß die Nutzung der erweiterten Anwendung und das neuerworbene Wissen uns in gleichem Maß zugute kommen sollen.«
Ulan Dhor, ein schlanker junger Mann, mit bleicher Haut, schwarzem Haar und kaum weniger schwarzen Augen und Brauen lächelte freudlos. »Aber ich bin es doch, der die lange Reise über das unbekannte Meer antritt! Ich bin es doch, der die Seedämonen mit dem Ruder abwehren muß!«
Kandive lehnte sich in seine Kissen zurück und kratzte sich mit seinem Jadering die Nase.
»Und ich bin es, der dir die Reise erst ermöglicht! Außerdem bin ich bereits ein erfahrener Zauberer. Das Wissen, das du zurückbringen wirst, wird meine Kraft lediglich noch ein wenig erweitern. Du dagegen, der du noch nicht einmal ein Eingeweihter bist, wirst dir einen Namen unter den Magiern von Ascolais machen. Das ist ein großer Sprung von deinem gegenwärtigen unbedeutenden Status. Von dieser Seite gesehen, ist mein Gewinn gering, deiner dagegen groß.«
Ulan Dhor verzog das Gesicht. »Damit magst du recht haben, aber mir mißfällt das Wort >unbedeutend<. Ich kenne Phandaals Kritik der Kälte, ich bin anerkannter Meister des Schwerts, zähle zu den Acht Delaphasiern…«
»Pah!« schnaubte Kandive. »Leerer Manierismus, mit dem die Bleichhäutigen sich die Zeit vertreiben – raffinierte Morde, extravagante Ausschweifungen, während die Erde in ihren letzten Zügen liegt. Etwas anderes kennt ihr nicht. Keiner von euch hat sich auch je nur eine Meile aus Kaiin hinausgewagt.«
Ulan Dhor unterdrückte die Entgegnung, daß auch Prinz Kandive, der Goldene, nicht gerade dafür bekannt war, die Freuden des Weines, Bettes und Tisches zu verschmähen, und daß sein weitester Ausflug aus seinem Kuppelpalast ihn
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