DIE STERBENDE ERDE
»Den Platz der Flüsterstimmen. Könnt Ihr mir vielleicht den Weg weisen?«
Ein unverständliches Krächzen drang aus der Kehle des Alten, dann murmelte er: »Noch einer! Noch einer! Geben sie es denn nie auf?« Er deutete auf die Leiche. »Dieser junge Mann kam gestern hierher, um den Platz der Flüsterstimmen zu suchen. Er wollte Chun, den Unvermeidbaren, bestehlen. Seht ihn Euch jetzt an.« Er drehte sich um. »Kommt mit.« Er verschwand hinter einer eingestürzten Mauer.
Lian folgte ihm. Der Alte stand über eine weitere Leiche gebeugt, deren Augenhöhlen leer und blutverkrustet waren.
»Dieser hier kam vor vier Tagen – und begegnete Chun, dem Unvermeidbaren… Und drüben, hinter dem Torbogen liegt ein tapferer Krieger in blutigem Cloisonneharnisch. Und dort –
und dort – und dort…« Der Greis deutete. »Und dort – und dort
– überall liegen die Toten wie erschlagene Fliegen.«
Er musterte Lian mit wässrigen blauen Augen. »Kehrt um, junger Mann, kehrt um – sonst dient bald auch Eure Leiche in dem schönen grünen Umhang den Würmern zum Fraß.«
Lian zog sein Rapier und schwang es prahlerisch. »Ich bin Lian, der Troubadourbandit. Ich bringe jedem, der sich mit mir anlegen will, das Fürchten bei. Und jetzt sagt mir, wo ist der Platz der Flüsterstimmen?«
»Wenn Ihr es unbedingt wissen wollt – er liegt jenseits des gestürzten Obelisken. Aber Ihr geht in Euren Tod!«
»Ich bin Lian, der Wegelagerer. Der Tod geht mit mir!«
Der Greis blieb wie eine verwitterte Statue stehen, als Lian davonschritt.
Plötzlich fragte sich Lian: Angenommen dieser Weißbart ist ein Spitzel Chuns und bereits auf dem Weg, ihn zu warnen?
Besser, ich gehe kein Risiko ein… Er schwang sich auf ein hohes Säulengebälk und schlich geduckt zurück, von woher er gerade gekommen war.
Da kam auch schon der Greis, vor sich hinmurmelnd und auf seinen Stock gestützt. Lian packte ein Stück Granit, so groß wie sein Kopf, und ließ es auf den Alten hinunterfallen. Ein Platschen, ein Röcheln – und Lian zog seines Wegs.
Vorbei an dem gestürzten Obelisken trat er auf einen weiten Platz – den der Flüsterstimmen. Direkt gegenüber befand sich eine lange, breite Halle mit einer schiefen Säule davor, auf der er ein großes schwarzes Medaillon mit einem Phönix und einer doppelköpfigen Echse sah.
Lian drückte sich in die Schatten einer Mauer und hielt Ausschau nach auch nur einer Spur von Bewegung.
Aber alles war ruhig. Das Sonnenlicht verlieh den Ruinen eine düstere Pracht, Zu allen Seiten, so weit das Auge reichte, waren zerborstener, zerfallener Stein, eine Öde, vom Regen endloser Äonen ausgewaschen, bis sie mit der Erde verschmolz und nichts mehr an Menschenwerk erinnerte.
Die Sonne zog über den dunkelblauen Himmel. Lian stieg von seinem geschützten Platz hinunter und schlich in respektvollem Abstand um die Halle herum. Nichts, absolut nichts als toter Stein war zu sehen.
Nun näherte er sich ihr von der Rückseite und preßte das Ohr gegen die Wand. Auch zu hören war nichts, genausowenig spürte er die geringste Vibration. Jetzt hielt er Ausschau nach beiden Seiten, spähte nach links, spähte nach rechts. Ah, da war ein Spalt. Lian schaute hindurch. An der Rückwand hing die fehlende Hälfte von Liths goldenem Teppich. Sonst war die Halle völlig leer.
Lian blickte nach dieser Seite, nach jener, er blickte hoch und nach unten. Es war nichts, absolut nichts und niemand zu sehen. Er schlich weiter an der Außenmauer entlang.
Er kam zu einem zweiten Riß in der Mauer. Auch durch ihn spähte er. An der Rückwand hing der goldene Teppich. Das war alles, was zu sehen war, und kein Laut brach die Stille.
Weiter schlich er an der Außenmauer entlang, bis zum Eingang. Alles war tot und still.
Von hier konnte er die ganze Halle überblicken. Leer war sie, völlig leer, von dem Stück goldenen Teppich abgesehen.
Lian trat mit langen, federnden Schritten ein. In der Mitte der Halle blieb er stehen. Licht fiel von allen Seiten herein, mit Ausnahme der Rückseite. Es gab Dutzende von Spalten, Rissen und anderen Öffnungen, denen er sich fernhalten mußte, wollte er in der Düsternis der Wandschatten bleiben. Immer noch war kein Laut zu hören, außer dem heftigen Pochen seines Herzens.
Weiter schlich er auf den Teppich zu. Jetzt brauchte er nur noch die Arme danach auszustrecken! Er trat ganz nahe heran und riß den Teppich von der Wand. Dahinter stand Chun, der Unvermeidbare! Lian schrie. Er drehte
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