Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Sonne leuchtete strahlend hell auf. Der unruhige Himmel verwirrte auch Marys Gedanken, sie fiel in einen seltsamen Zustand zwischen Traum und Wachen, in dem sie selber nicht mehr wußte, was Wirklichkeit war und was nicht. Die Schatten, die mit einfallender Nacht in ihr Zimmer traten, machten ihr Angst. Einmal erkannte sie in ihnen die schwarzgekleidete Königin und ihre Richter, dann wieder Nicolas und die Konstabler, düster ragte der Tower in den Himmel, Anne Brisbane und Lady Cathleen drängten sich vor seinen Pforten, und tausend andere bekannte Gesichter marschierten auf: Ambrose und Lettice, Bess, kalt lächelnd wie immer, Pater Joshua mit seinen melancholischen Augen, Nan, die ihre Zauberkugel schwenkte und geheimnisvolle Beschwörungen murmelte. Der ganze Raum schien voller Geister, die ein Gewisper anstimmten, wann immer die furchtbaren Schmerzen in Marys Körper nachließen und sie in einer rasanten Talfahrt vom Gipfel des Leidens in besänftigendes Fieber stürzte, die verklangen, wenn der Schmerz wiederkam und zur einzigen Wirklichkeit wurde. In winzig kurzen Augenblicken des Bewußtseins war Mary davon überzeugt, daß sie jetzt sterben würde, denn sie hatte einmal gehört, daß in den Minuten des Todes alle Menschen am Sterbenden vorüberziehen, mit denen er im Laufe seines Lebens zusammengetroffen war. Gerade dies geschah jetzt mit ihr, und sie hatte nur den Eindruck, daß etwas bei ihr fehlte, etwas Entscheidendes, das Entscheidendste vielleicht in ihrem Leben überhaupt. Sie versuchte so verzweifelt, sich daran zu erinnern, daß ihr vor Erschöpfung und Kummer die Tränen kamen. Sie warf sich auf ihrem schweißnassen Lager hin und her und kämpfte mit aller Kraft gegen die Geister, die sie schon wieder in ihren Bann ziehen wollten. Dann trat etwas an ihr Bett heran, und sie erkannte, daß es
ein Mensch aus Fleisch und Blut war. In tiefer Erleichterung merkte sie, daß sie gefunden hatte, wonach sie so beharrlich suchte.
»Frederic«, sagte sie leise. Die Gestalt neigte sich über sie.
»Nein, Madam, ich bin es nur, Will Shannon. Ich bin wieder da. Ich habe eine Frau mitgebracht, die Ihnen helfen wird. Jesus, war das schwierig, jemanden zu finden, es waren ja alle beim Tower. Sie haben die Königin zum Tode verurteilt, Madam, denken Sie nur...«
»Merken Sie nicht, daß sie Ihnen gar nicht zuhören kann, das arme Ding?« mischte sich eine energische Stimme ein. »Jetzt lassen Sie mich mal zu ihr und verschwinden Sie!« Eine weitere Gestalt schob sich heran, eine kräftige, kühle Hand legte sich auf Marys Stirn.
»Ach Gott, sie verglüht ja! Ich mach’ Ihnen jetzt erst mal einen Tee gegen das Fieber, Madam, und einen gegen die Schmerzen. Und Sie gehen jetzt endlich, Mr. Shannon. Wie lang liegt die denn schon so hier? Seit heute mittag? Und jetzt ist schon Nacht! Unverantwortlich. Gut, daß Sie gerade mich gefunden haben. Die alte Myrrhinia hat schon Frauen dem Tod entrissen, auf deren Leben kein Mensch mehr einen Pfifferling gegeben hat. Wie heißen Sie denn, Herzchen?«
Mary öffnete mühsam die Augen. Sie sah in ein zerfurchtes, kluges Gesicht, das von schneeweißem Haar umgeben war.
»Mary«, flüsterte sie.
Myrrhinia nickte.
»Gut, Mary. Ich glaube, es dauert noch eine Weile, aber es wird schon gehen. Teufel noch mal, so ein junges Geschöpf, das laß ich nicht zu! Soll der Herrgott eine alte Krähe wie mich holen, aber nicht so was wie Sie! Wo ist eigentlich der Vater von dem Kleinen? Hat sich beizeiten aus dem Staub gemacht, wie?« Sie kicherte.
Mary schüttelte schwach den Kopf.
»Nein... ich weiß nicht, wo er ist...«
»Na, den brauchen wir auch nicht. Was der zu dem ganzen Unglück tun konnte, hat er gründlich getan. Jetzt entspannen Sie sich, Mary, gleich kommt der Tee. Wo ist denn der Ofen? Ach, dort...« Ihre Stimme klang gleichmäßig weiter, geschäftig, munter und beruhigend. Sie verscheuchte Geister und rasend wirbelnde Bilder,
nahm dem Fieber seine furchtbare Kraft. Auf einmal war Mary nicht mehr sicher, daß sie sterben würde, und sie wollte es auch gar nicht mehr. Erleichtert dachte sie, daß ein wohlmeinendes Schicksal die alte Frau, die sich Myrrhinia nannte, zu ihrer Rettung herbeigesandt hatte.
In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages kam Marys Tochter zur Welt. Mary war so erschöpft, daß sie ihr Kind kaum wahrnehmen konnte. Eine furchtbare, endlose Nacht lag hinter ihr, Stunden, in denen sie sich schreiend an Myrrhinia geklammert und sie um Hilfe
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