Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
schwiegen betreten. Myrrhinia hob energisch das kleine Mädchen hoch und legte es zu Mary ins Bett.
»Nun weinen Sie sich bloß nicht die Augen aus«, brummte sie, »zur Abwechslung sollten Sie sich auch einmal um Ihr Kind kümmern. Wie soll die Kleine heißen?«
»Ich weiß nicht. Nicolas wollte den Namen eist aussuchen, wenn das Kind da ist, damit er auf jeden Fall zu ihm paßt.«
»So ein Unsinn! Ein Kind muß gleich einen Namen haben. Geben Sie ihm einen!«
»Ich will Nicolas fragen.«
»Ja, und bis dahin hat es gar keinen Namen! Schöne Sitten sind das.«
»Ich bin Ihnen doch sehr dankbar für alles, Myrrhinia«, sagte Mary erschöpft. Sie betrachtete ihre Tochter und strich vorsichtig über die zarte Nase und die hauchfeinen Augenlider. Bei all ihrem
Kummer und ihrer Angst empfand sie nun doch ein Gefühl der tiefen Zärtlichkeit und plötzlich auch der Verantwortung. Während sie das Baby anschaute, schöpfte sie neue Kraft.
»Gott schütze deinen Vater«, flüsterte sie, »aber wenn er’s nicht tut, dann werde ich eben allein für dich sorgen, und was ich kann, werde ich tun, damit du es gut hast. Du sollst nichts vermissen, und du sollst stolz sein auf deine Mutter.« Sie sah hoch, zum Fenster hinaus, als suche sie draußen im hellen Frühlingshimmel eine Macht, die ihr Stärke gab.
»Du wirst niemals arm sein«, versprach sie mit klarer Stimme, »Geld wirst du haben und Sicherheit und Ansehen. Ich weiß noch nicht wie, aber du kannst dich darauf verlassen — weder arm noch bemitleidet wirst du jemals sein!«
Die nächsten zwei Tage hörte Mary nichts von Nicolas und quälte sich mit schrecklichen Ängsten, aber sie konnte nicht zu ihm, weil Myrrhinia wie ein Wachhund vor ihrem Bett stand und aufpaßte. An ihrem Arm machte Mary ein paar zaghafte Schritte durch das Zimmer und merkte dabei, wie elend es ihr noch ging. Stundenlang saß sie am Fenster und starrte bewegungslos hinaus. Sie aß kaum etwas und sah so krank aus wie damals, als sie nach dem Mordanschlag auf Lady Winter einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Sie fühlte sich verlassen, ungeschützt und sah einer Zukunft entgegen, vor der ihr so graute, daß sie nachts keinen Schlaf mehr fand. Wenn Nicolas nicht zurückkäme, dann hätte sie keinen Menschen mehr auf dieser Welt, der sie in die Arme nähme, tröstete, der für sie sorgte und ihr lächelnd erklärte, es werde schon alles gut werden. Sie hätte nur noch diese drückend schwere Last im Arm, die schreiend nach Nahrung und Zuwendung verlangte, sie vertrauensvoll aus großen blauen Augen anschaute und der sie versprochen hatte, für sie zu sorgen, so gut sie nur konnte. Sie versuchte immer wieder, von Myrrhinia die Erlaubnis zu erbetteln, zu Nicolas gehen zu dürfen, aber die Alte blieb hart. Erst am dritten Tag, es war der neunzehnte Mai, mußte Myrrhinia ihrerseits das Haus verlassen, weil sie zu einer anderen Geburt gerufen wurde.
»Heute abend sehe ich nach Ihnen, und gnade Ihnen Gott, wenn
Sie sich gerührt haben«, drohte sie, »Sie bleiben im Zimmer, bis ich wiederkomme!«
Sie war kaum verschwunden, da stand Mary auf, wickelte ihr Baby in eine Decke, lief die Treppe hinunter und drückte es dem überraschten Will in den Arm.
»Will, tun Sie mir einen Gefallen, passen Sie auf die Kleine auf. Ich bin so schnell wie möglich wieder zurück.«
»Miss Myrrhinia sagt...«
»Es ist mir gleich, was Miss Myrrhinia sagt. Ich muß nach Nicolas sehen. Vielleicht kann ich etwas für ihn tun.«
Das sah Will ein, und so unbehaglich er sich auch mit dem Baby im Arm fühlte, machte er doch keine Einwände mehr. Mary hätte ihm auch nicht zugehört. Sie war schon zur Tür hinaus und eilte so rasch sie konnte, durch die engen Gassen. Es war Frühling geworden in London, die Bäume am Themseufer blühten, und in der warmen Luft erstand der Fäulnisgestank der überfüllten Stadt wieder auf. Mary, krank und elend wie sie war, empfand einen gesteigerten Widerwillen vor all dem Unrat, vor den vielen hastenden Menschen, vor dem Geschrei und Getose. Wie häßlich diese Stadt ist, dachte sie, wie häßlich die Menschen! Ich wünschte, ich könnte fort von hier, so weit es nur geht!
Als sie sich dem Tower näherte, dröhnten plötzlich schwere Kanonenschüsse von dort herüber, durchschnitten die weiche Luft, hallten im sonnenblauen Himmel wieder. Mit einem Schlag verstummte die Lebendigkeit in den Straßen. Die Menschen hielten mitten in ihren Bewegungen inne, und sahen wie von einer
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