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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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bekommen, ich...« sie wischte hilflos die Tränen fort, »ich kann mich doch kaum noch auf den Beinen halten.«
    Der Wärter wirkte gerührt.
    »Gut, kommen Sie mit«, sagte er, »ich will nicht schuld sein, wenn Sie ihn nie wieder... so etwas, so eine junge Frau, und ein kleines Kind, ach, die Welt ist so schlecht...« Er brummte leise vor sich hin, während er, eine Kerze in der Hand, vor Mary her durch endlose, finstere Gänge ging, ausgetretene, glitschige Stufen hinauf und wieder hinunter, durch finstere Gewölbe, in die kein Sonnenstrahl fiel, an Eisentüren vorüber, hinter denen kein Leben zu sein schien, aus denen nur selten einmal ein Schrei oder ein Stöhnen hervorklangen. Oft mußten sie sich bücken, weil die Decke so niedrig wurde, manchmal glitt Mary auf dem feuchten Boden beinahe aus. Als es schließlich eine steile Treppe hinunterging, hatte sie das Gefühl, in das schaurigste, gottverlassenste Verlies der Welt einzutreten, und Zeit und Raum und alle Alltäglichkeit des irdischen Lebens hinter sich zu lassen. Hier unten herrschte ein anderes Dasein, das nichts mit dem gewöhnlichen, bekannten gemein hatte.
    Vor einer der winzigen Eisenpforten blieb ihr Führer stehen.
    »Hier ist Nicolas de Maurois«, sagt er, »ich lasse Sie mit ihm allein, aber nicht zu lange.« Er öffnete den Riegel der Pforte und ließ Mary eintreten.
    Sie hatte ihre Augen schon vorher an das Dämmerlicht in den Gängen gewöhnt, so daß sie den winzigen Raum, in dem nur ein trübes Talglicht brannte, sogleich erkennen konnte. Es gab kein Fenster, keinen einzigen Hauch von frischer Luft, nur schwere, erstickende Feuchtigkeit. Auf den dunklen steinernen Wänden perlte Wasser und wuchsen dicke Moosflechten, den Fußboden bedeckte stinkendes Stroh, in dem dicke, weiße Maden herumkrochen. Es gab kein Bett, keinen Tisch. In einer Ecke stand eine hölzerne Schüssel mit einem Stück Brot darin, daneben ein Wasserbecher. Alles wirkte so grauenhaft verwahrlost, so verkommen und hoffnungslos, daß Mary der Atem stockte. In ihrem ersten Entsetzen wäre sie beinahe einen Schritt zurückgewichen, aber da erhob sich aus der
finstersten Ecke eine Gestalt, die dort zusammengekauert gesessen hatte, und trat auf sie zu. Es war Nicolas. Er war mager geworden in den wenigen Tagen und grau im Gesicht, seine Wangen bedeckten dunkle Bartstoppeln, seine Augen waren gerötet und entzündet. Er stank nach dem ganzen Schmutz dieses Verlieses und nach tagealtem Schweiß, sein Hemd klebte blutverkrustet an ihm, und jeder Schritt schien ihm weh zu tun. Aber Mary achtete nicht darauf. Inmitten dieser grausamen Hölle, nach all der gespenstischen Unwirklichkeit der letzten Tage, tauchte er auf als das einzige Vertraute der Welt, verscheuchte mit seinem zärtlichen Lächeln die Dämonen der Angst, und Mary fiel ihm in die Arme. Für diesen Augenblick hätte sie ebensogut auf einer Sommerwiese voller leuchtender Blumen stehen können, anstatt in einem finsteren, unentrinnbaren, todbringenden Verlies tief unter den Mauern des Towers.
     
    »Erzähl mir von unserem Kind«, sagte Nicolas, »du mußt mir ganz genau beschreiben, wie sie aussieht.«
    Sie saßen nebeneinander in dem schmutzigen Stroh, mit dem Rücken an die feuchte Wand gelehnt, die Beine angezogen und an den Körper gepreßt, um ein klein wenig Wärme zu ergattern. Sie hielten sich an der Hand und Mary hatte ihren Kopf an Nicolas’ Schulter gelehnt; ihr war übel vor Schwäche und kalt vor Grauen. Sie lauschte dem steten Tropfen des Wassers auf dem Stein, es klang hohl und glitschig und rief in Mary Erinnerungen an das Armenhaus wach. Es war ein Geräusch ihrer Kindheit, das sie nie wieder hatte hören wollen und von dem sie geglaubt hatte, es werde in Marmalon verstummen. Sie wandte den Kopf, um Nicolas anzusehen. Es schnitt ihr ins Herz, ihn so schwach und müde zu erleben.
    »Unser Kind«, sagte sie, »ist sehr hübsch. Myrrhinia – weißt du, die Frau, die mir geholfen hat – Myrrhinia sagt, es sei ein zauberhaftes, kleines Mädchen. Sie hat ein paar schwarze Haare und blaue Augen, aber Myrrhinia meint, sie werden dunkelbraun. So wie deine. «
    »Meine Augen hat sie! Und rötliche Haare wie du? Später?«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht.«
    »Ich hätte sie gern gesehen.«

    »Ja, ich weiß. Aber sie hierher mitzubringen...«
    »Natürlich, das wäre nicht gut gewesen. Es ist schlimm genug, daß du gekommen bist. Du bist noch viel zu schwach. Du solltest dich einmal sehen!«
    Mary lächelte

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