Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
abergläubischen Furcht gebannt hin zum schwarzen Tower, der auf einmal besonders bedrohlich schien. Auch Mary schrak zusammen.
»Was ist das?« fragte sie erschrocken. Alle Umstehenden blickten sie an.
»Sie wissen es nicht, Madam?« fragte eine Frau. »Eben gerade haben sie die Königin enthauptet. Und nun verkünden es die Kanonen Gott und der Welt.«
Die letzten Schüsse verhallten über den glitzernden Wellen. Mary atmete schwer. Die Königin! Die hatte sie ganz vergessen. Unwillkürlich
faltete sie ihre Hände. Dann erst entdeckte sie die vielen Fahnen und Girlanden, die von Häusern und Schiffen wehten.
»Warum ist die Stadt so herausgeputzt? Doch nicht zur Feier der Urteilsvollstreckung? «
»Sie haben wohl gar nichts mitbekommen in den letzten Tagen«, meinte die fremde Frau beinahe entrüstet, »Seine Majestät werden bald wieder heiraten. Seit Tagen feiert der Hof die neue Braut.«
»Und wer ist sie?«
»Lady Jane Seymour.«
»Oh, das hab’ ich nicht gewußt. Die letzte Frau ist kaum tot, da...«
Aber Mary hatte andere Sorgen, als sich über die Freveltaten des Königs aufzuregen. Eilig lief sie weiter. Vor dem Tower gewahrte sie eine dichte Menschenmenge, genau wie am Tag des Prozesses. Sie lauschte der Stimme des Bürgermeisters von London, der auf dem Balkon des Hauses vom Kerkermeister stand, eine Papierrolle in der Hand, von der er vorlas. Mary drängte sich ein Stück nach vorne.
»Was liest er denn da?« fragte sie flüsternd.
»Psst. Das sind die Abschiedsworte der Königin an ihr Volk.«
»... Gott möge den König erhalten, daß er lange über euch regiere, denn niemals hat es einen milderen und gnädigeren König gegeben; auch mir war er stets ein guter, milder Fürst und Herr. Und wenn irgend jemand daran denken sollte, um meines Andenkens willen ein Wagstück zu unternehmen, so ersuche ich ihn, sich eines Besseren zu besinnen. Und somit sage ich der Welt Lebewohl, und besonders euch, die ihr hier seid, und ich bitte euch alle herzlich, für mich zu beten. O Herr, habe Erbarmen mit mir! Gott befehle ich meine Seele!«
Es herrschte Stille, als der Bürgermeister geendet hatte. Die Menschen schienen ergriffen und wußten nicht, was sie tun sollten; es kam ihnen wohl banal vor, sich wie nach jedem Spektakel zu zerstreuen und eigenen Beschäftigungen nachzugehen.
Der Bürgermeister hob die Arme und rief:
»Geht, Leute, geht nach Hause! Es ist alles vorbei. Die Königin ist tot. Wir werden eine neue Königin haben, dann könnt ihr wieder
zusammenkommen und sie feiern und hochleben lassen. Bis dahin geht nach Hause!«
Widerwillig traten die Menschen ein paar Schritte zurück. Nur Mary drängte sich energisch nach vorne. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um sich gegen den Strom durchzusetzen, und als sie endlich an einer Seitenpforte des Towers angekommen war, fühlte ihr Kopf sich leer und leicht an, fast so, als bekomme sie wieder Fieber. Sie mußte sehr schlecht aussehen, denn der Wächter vor dem Tor meinte mitfühlend:
»Hat Sie alles sehr mitgenommen, Madam, wie? Aber ich kann Sie nicht zu ihr lassen. Niemand darf den Leichnam der Königin sehen. «
»Ich will nicht zur Königin. Ich bin Mary de Maurois. Mein Mann ist hier gefangen, Nicolas de Maurois. Vor vier Tagen haben sie ihn verhaftet und seither weiß ich nicht, was mit ihm ist. Ich muß ihn sehen.«
»Maurois? Diebstahl, nicht? Ja, ich weiß nicht, ob ich Sie zu ihm lassen darf. Sie hätten früher kommen müssen. Gestern abend ist er verurteilt worden, und jetzt darf niemand mehr zu ihm.«
»Verurteilt? Verurteilt und...«
»Nein, noch nicht vollstreckt. Heute ist der Todestag der Königin, eine Woche lang gibt es keine Vollstreckungen.«
»Und wie... wie...« Mary griff haltsuchend nach der Wand, weil der Boden unter ihren Füßen schwankte, »wie lautet das Urteil? «
Der Mann griff schnell nach ihrer Hand, weil er fürchtete, sie würde umfallen.
»Er hat sich schuldig bekannt. Und das bedeutet... Sie wissen, was auf Diebstahl steht?«
»Ja... ich weiß...« Mary umklammerte die dargebotene Hand, weil sich nun alles vor ihren Augen drehte. Weiß bis in die Lippen flüsterte sie:
»Er ist unschuldig. Lieber Gott, ich schwöre, er ist unschuldig. Oh, bitte, bitte, lassen Sie mich zu ihm.« Sie bot einen so mitleiderregenden Anblick, daß der Wärter zögerte.
»Ich darf das eigentlich nicht«, meinte er.
»Aber Sir, ich muß ihn sehen! Und ich konnte nicht früher kommen. Ich habe vor drei Tagen ein Kind
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