Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
solltest du gut gewappnet sein. Das überstehen härtere Menschen als du nicht.«
»Hart?« Mary lachte bitter. »Ja, ich bin vielleicht nicht hart genug, aber ich kann es werden. Hunger macht hart, und Sorgen und Angst vor jedem neuen Tag. Es macht hart, dem eigenen Kind nicht genug zu essen geben zu können. Jane ... « sie lächelte in der Erinnerung an jenen Tag, als sie auf der London Bridge gestanden und in die Themse geblickt hatte. »Jane hat mich schon manches Mal zum Durchhalten bewogen. Weißt du, wenn ich sie ansehe, ihre zu engen Kleider, ihr verfrorenes Gesicht, ihre hungrigen Augen, dann ist es, als sähe ich mich als Kind, und ich fühle mich so zornig und so stark, daß ich es mit Cromwell und Norfolk und mit Seiner Majestät dem König selbst aufnehmen würde. Und das werde ich tun. Ich werde mir nehmen, was mir zusteht.«
»Mary, ich weiß wirklich nicht, wie...«
Ihre Augen bekamen einen träumerischen Glanz, sie achtete gar nicht auf Wills Worte.
»Ich werde eigenes Land haben«, sagte sie, »von dem mich kein Mensch je wieder vertreiben kann. Mich nicht und Jane auch nicht. Ich werde mir mein eigenes Marmalon bauen.«
»Was wirst du bauen?«
Sie lächelte.
»Ach, ein Kindheitstraum von mir. Marmalon... das einzige, was je für mich gezählt hat. Diesmal bekomme ich es.«
Will wiegte nachdenklich den Kopf.
»Mary, tu nichts, was du nicht vor dir rechtfertigen kannst...«
Heftig fuhr sie ihn an:
» Oh, Will, wer denkt schon daran, sein Tun rechtfertigen zu können? Nur die, die untergehen. Nicht die, die reich werden und sich einen Dreck um die ganze Welt scheren!«
Ihre Augen funkelten hart wie blaues Glas. Will seufzte. Was auch immer sie vorhatte, er würde sie davon nicht abbringen können. Entschlossener als an diesem Abend hatte er sie nie erlebt. Und obwohl er alt war und vom Leben nichts mehr erwartete, wurde er von einem Gefühl der Bewunderung ergriffen. Es lag etwas Herausforderndes in Marys Wesen und eine unnachgiebige Unbeugsamkeit dem Schicksal gegenüber. Jede andere Frau hätte er für wahnsinnig gehalten, wäre sie aus einem solch bettelarmen Leben heraus losgezogen, die Welt zu erobern, aber bei Mary erstarb ihm der Spott auf den Lippen. Von allen Menschen, die er kannte, war sie die einzige, von der er überzeugt war, daß sie erreichen würde, was sie auch wollte. Und in einer beinahe unbewußten Erkenntnis dachte er: Sie hat mehr Kraft als Nicolas. Sie hat mehr Kraft als wir alle.
Am nächsten Morgen ging Mary zu einem Goldschmied, von dem Will ihr gesagt hatte, daß er nie Fragen stellte, und verkaufte das Armband, das sie einst vor dem Galgen von Tyburn einer reichen Frau gestohlen hatte. Bislang hatte sie es als Erinnerungsstück gehütet, aber jetzt sagte sie sich, daß keine Zeit für Gefühle war. Ihr
blieb immer noch der Ring des greulichen Archibald Claybourgh, den Nicolas ihr an den Finger gesteckt hatte und den sie um keinen Preis der Welt hergegeben hätte. Sie bekam eine ansehnliche Summe für das Armband, davon würden sie eine ganze Zeit leben können.
Im Sherwood Inn zog sie sich sorgfältig an und kämmte ihre Haare, bis sie glatt und glänzend um ihre Schultern lagen. Das Kleid stammte noch aus ihrer ersten Zeit mit Nicolas. Es war aus dunkelgrüner Wolle und vorne über einem Unterkleid aus hellgrüner Seide geschlitzt. Weil es so teuer gewesen war, hatte sie es selten getragen, deshalb sah es jetzt noch wie neu aus. Sie wirkte so vornehm darin, daß Jane voller Ehrfuhrcht um sie herumstrich und den Stoff nicht anzufassen wagte.
»Wo gehst du denn hin?« fragte sie schließlich. Mary steckte ein Paar Ringe aus goldgefärbtem Blech und geschliffenem Glas in die Ohren.
»Du kennst die Leute nicht«, sagte sie, »aber es sind feine Leute, deshalb muß ich das schöne Kleid anziehen.«
»Werde ich auch einmal ein so schönes Kleid haben?«
»Natürlich. Eines Tages haben wir viel Geld und ich kaufe dir die schönsten Kleider. Denk nur, wie hübsch du dann aussiehst!«
Jane lächelte zufrieden und drehte sich kokett vor dem Spiegel. Sie wußte genau, daß sie ein reizendes Mädchen war, die Frauen aus der Nachbarschaft sagten es ihr immer wieder. Sie hatte das zarte, blasse Gesicht ihrer Mutter, auch deren schmalen, schöngeformten Mund und die geschwungenen Brauen, aber ihre Augen waren dunkelbraun wie die von Nicolas und ihre Haare pechschwarz. Allerdings meinte Mary manchmal, daß sie in einem bestimmten Licht rötlich schimmerten.
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