Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
greifbaren Möglichkeit geworden, und sie begann sich um so heftiger dagegen zu sträuben. Auf die dumpfe, dunkle Angst hatte sie nur mit Verzweiflung reagiert, nun endlich gelang es ihr, klar und entschlossen nachzudenken. Sie akzeptierte die Tatsache, daß sie Claybourghs Abgabenforderungen bestenfalls noch zwei Monate lang nachkommen konnte, danach würde sie im Schuldgefängnis landen und alles wäre zerronnen, was sie sich aufgebaut hatte. Sie begann ihren Stolz beiseitezuschieben und gelangte zu dem Schluß, daß sie zwar wohl keine Möglichkeit hatte, dem Verhängnis zu entrinnen, daß sie aber alles versuchen mußte, und dazu gehörte auch ein Gang als Bittsteller zur Archibald Claybourgh.
Sie hörte Mackenzies Worte in der Erinnerung: » Vielleicht will er nur das. Sie auf den Knien liegen sehen.« Ihr war übel vor Zorn, aber wenn sie dann zum Fenster hinaussah in die letzten blaßbunten Blätter an den Bäumen und auf die Wiesen, über denen schon erster weißer Reif lag, dann wußte sie, daß dieses Opfer für Marmalon nicht zu hoch war. Jeder Stein des Hauses, jeder Grashalm im Garten waren es wert, nach Canossa zu pilgern und Archibald vor die Füße zu fallen.
»Lieber würde ich barfuß über Dornen gehen«, sagte sie zu Tallentire, »und wenn ich das aushalte, dann nur, weil ich Marmalon so sehr liebe und weil ich von ganzem Herzen wünsche, daß dieser elende Teufel dafür irgendwann wird bezahlen müssen!«
Sie wählte einen klaren, kalten Tag Ende November, um nach Sluicegates zu reiten, und es war gerade der Tag, an dem sich der alte Will gleich nach dem Aufstehen wieder hinlegte und zu Dilys sagte, er werde wohl kaum noch einmal sein Bett verlassen. Dilys kam völlig verschreckt zu Mary, die in ihrem Zimmer stand und gerade ihre Haare kämmte.
»Madam, Mr. Shannon ist krank«, berichtete sie bekümmert, »er sagt, er kann nicht aufstehen und er will auch gar nicht.«
»Was sagst du da?« Mary legte ihren Kamm fort und eilte hinter Dilys her über den Gang in Wills Zimmer. Sie kniete neben seinem Bett nieder und ergriff seine Hand.
»Aber Will, was ist denn? Warum stehst du nicht auf?«
Will wandte langsam den Kopf zu ihr hin. Mary erschrak vor dem verschleierten Blick seiner Augen.
»Ach, Mary, ich glaube, es wird nichts mehr mit mir«, sagte er leise, »ich habe achtundsiebzig Jahre gelebt, und irgendwann muß es zu Ende sein. Ich habe keine Angst davor...«
»Was redest du denn? Hör auf damit. Du bist krank, aber du wirst wieder gesund!«
»Nein, Mary, mach dir nichts vor. Ich bin seit Wochen und Monaten schon immer schwächer und schwächer geworden. Es hat doch keinen Sinn, Tatsachen abzuleugnen. Das tust du doch nie, Mary, nicht wahr?«
Mary schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie mit erstickter Stimme, »das tue ich nie.«
Der Druck seiner Hand verstärkte sich etwas. »Deshalb gehst du auch heute zu Claybourgh. Du bist ein tapferes Mädchen. Rede ihn weich, den Lumpen! Du hast so schöne Augen.«
»Ich fürchte, damit beeindrucke ich ihn auch nicht. Ach, Will«, sie sah ihn hilflos an, » Will, ich habe mich zu wenig um dich gekümmert in der letzten Zeit. Auch um Jane nicht. Ich habe überhaupt nichts anderes mehr als Geld im Kopf gehabt!«
»Nun vergieß deswegen keine Träne«, sagte Will scharf, »du machst es genau richtig. Du bist eine Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt und die Menschen, die sie brauchen, beschützt. Du kannst nicht auch noch alle mit Zärtlichkeit und Fürsorge überschütten. Die sollen sie sich, verdammt noch mal, woanders holen. Verschwende deine Kraft nicht, Mary. Du kannst viel erreichen, wenn du sie zusammenhältst. Gräme dich nicht um einen alten Mann und um ein verzogenes Kind. Kümmere dich jetzt nur um Archibald Claybourgh. Zeig ihm die Zähne, kratz ihm die Augen aus! Damit hast du genug zu tun. «
Mary nickte, noch immer reuevoll, aber bereits getröstet. »Gut«, sie stand auf, ließ Wills Hand los und strich ihr Kleid glatt, »dann gehe ich jetzt. Ich ... «
»Noch etwas, Mary!« Wills alte, graue Augen waren voller Verständnis. »Denk daran, daß du das alles auch für Nicolas tust. Und er ist es wert. Ich kenne ihn noch länger als du. Er hat alle Liebe der Welt verdient.«
»Nicolas?« Sie sah ihn überrascht an. »Aber er...«
»Ich weiß, ein lästerlicher, gesetzesloser Gauner ist er. Aber du wirst vielleicht, solange du lebst, keinem Menschen mehr begegnen, der dich so sehr liebt wie er.«
»Oh...« Sie
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