Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
auf ihr Pferd zu warten, das ein Knecht vorhin in den Stall geführt hatte. Mochte Mackenzie es heute abend abholen. Sie jagte die Auffahrt hinunter, als gelte es ihr Leben, stolperte, kam aber sofort wieder auf die Beine. Patricias Stimme durchschnitt den stillen, kalten Tag. »So warten Sie doch, Mary! Bleiben Sie stehen! Was ist denn?«
Sie drehte sich nicht um, sondern lief keuchend zum Tor hinaus, die Kastanienallee entlang und über eine Brücke. Sie wurde langsamer, weil sie kaum noch Luft bekam, aber sie blieb nicht stehen. Ihre Füße traten in raschelndes Laub, auf dem zarte Eiskristalle lagen, ihr Atem schlug ihr weiß aus dem Mund, die Kälte schmerzte in ihren Lungen und ihrer Brust. Frühe Dämmerung senkte sich bereits über das Land, Nebel stieg aus den feuchten Wiesen, es roch nach vermoderten Blättern und erfrorenem Moos. Mary stolperte über die Wiesen. Sie hatte den Weg verlassen und lief querfeldein, trat in tiefe Ackerfurchen oder blieb mit ihrem Kleid an Dornenranken hängen. Sie kümmerte sich nicht darum, daß der Stoff zerriß, sondern hastete weiter, weil es ihr vorkam, als müsse sie tausend Jahre laufen, um die Erinnerungen an Archibald Claybourghs Nähe loszuwerden. Sie seufzte erleichtert, als sie die Lichter von Marmalon durch die Dunkelheit schimmern sah. Wie Sterne, dachte sie, zum Greifen nah, aber in Wahrheit ganz, ganz weit weg!
Sie lief die Auffahrt hinauf und jedes einzelne Fenster hieß sie willkommen. Kerzen brannten hinter den Scheiben, Kaminfeuer warfen ihre Schatten. Vom Dachgiebel hob sich lautlos eine Eule und strich davon. Ein Windhauch wehte ein paar Blätter von den Bäumen auf den Weg hinab.
Mary zog ihr Tuch fester um die Schultern. Ihr Herz jagte, weil sie so schnell gerannt war, und in ihren Schläfen stach es. Der Kummer machte sie schwerfällig und müde; sie wünschte sich, eine Katze zu sein, die sich in einem dunklen Winkel verkriechen und sterben konnte, wenn sie das Leben nicht länger ertrug. Gleich darauf sagte sie sich, daß eine Katze sehr lange Widerstand leistete, ehe sie sich bereit fand zu sterben. Sie stieß die Haustür auf. In der Halle
flackerten Kerzen, einige verloschen unter dem plötzlichen Luftzug. Dilys und Allison kamen nebeneinander mit verweinten Augen die Treppe hinunter. Mary schloß die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihr Atem ging noch immer schwer.
»Was ist denn?« fragte sie. »Habt ihr geweint?«
Die beiden Mächen blieben stehen und starrten sie an. Allison begann heftig zu schluchzen, Dilys schluckte.
»Oh, Madam, wir haben so sehr auf Ihre Rückkehr gewartet. Mr. Tallentire ist auch schon losgeritten, um Sie zu holen, aber nun ist es doch zu spät!« Sie fing ebenfalls an zu weinen. Mary eilte zum Fuß der Treppe und sah zu ihnen hoch. » Was ist zu spät? Nun redet doch!«
»Der alte Mr. Shannon«, jammerte Allison, »er hatte solche Schmerzen und Fieber, und den ganzen Nachmittag lang hat er nach Ihnen gerufen, Madam. Wir haben ihm gesagt, daß Sie bald kommen, aber er war so durcheinander und hat es nicht begriffen.«
»Und was ist jetzt mit ihm?« Mary fühlte, wie sich ein stechender Schmerz in ihrem Kopf ausbreitete. Am liebsten hätte sie sich hingelegt, die Augen geschlossen und nichts mehr gesehen und gehört. Allison öffnete den Mund, klappte ihn aber wieder zu und wandte sich ab. Dilys rollten große Tränen die Wangen hinunter.
»Oh, es ist so schrecklich, und wir konnten gar nichts tun«, flüsterte sie, »es war so schrecklich, und jetzt... er ist tot, Madam. Bei Sonnenuntergang ist er endlich gestorben. Will Shannon ist tot.«
Sie begruben ihn in einer stillen Ecke hinter dem Haus, am Rande einer Mauer, unter den kahlen Ästen zweier Eichen. Es war windstill und eisig kalt am Tag des Begräbnisses, aber jeder, der auf Marmalon lebte, war gekommen, um Abschied von Will zu nehmen. Tallentire hielt eine schöne, ergreifende Predigt, die nur durch das laute Weinen von Dilys und Allison immer wieder unterbrochen wurde. Marys Augen blieben trocken, wie immer in den trostlosen Stunden ihres Lebens. Es quälte sie, daß sie in Wills letzten Minuten nicht bei ihm gewesen war, besonders da sie wußte, daß er nach ihr verlangt hatte, und sie verfluchte das Schicksal, das sie zwang, sich vor einem elenden Lumpen zu demütigen, während gleichzeitig einer
ihrer treuesten Freunde starb. Sie empfand Schmerz und Traurigkeit, aber daneben auch eine seltsame Kälte, von der sie sich
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