Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
von ihr abgelassen und atmete keuchend. Mary wartete auf den nächsten Angriff und dachte wirr: Jetzt werde ich gleich tot sein, o Gott sei Dank, gleich bin ich tot und alles ist vorbei!
Doch statt dessen fühlte sie plötzlich den vertrauten Schmerz in ihrer Brust, sie rang um Luft, röchelte, hörte ein reißendes, rauhes Rasseln, das aus ihren Lungen drang, so furchterregend, daß die Männer still wurden und zurückwichen. Im trüben Schein der Laterne konnten sie sehen, daß Mary hilflos nach Luft schnappte und ihr Gesicht sich bläulich verfärbte. Sie krümmte sich zusammen und schwankte in den Knien, konnte aber mit der einen Hand nach dem eisernen Geländer der Wirtshaustreppe greifen und sich daran wieder hochziehen.
»Verdammter Mist«, einer der Männer schien fast betroffen zu sein. »Die Kleine verreckt doch nicht, oder?«
»Los, kommt, wir hauen ab. Hinterher schieben die uns noch was in die Schuhe.«
»Wir haben ihr nichts getan, oder? Irgendwann muß sie’s doch lernen. Sie hat’s bestimmt schön gefunden!«
Unter schuldbewußtem Gemurmel zogen sie sich zurück.
Edward lachte verächtlich. »Das hat die oft«, sagte er, aber er machte sich ebenso schnell aus dem Staub wie die anderen. In wenigen Momenten lag die enge Straße wie ausgestorben da und Mary konnte den Blick heben und in den samtschwarzen Augusthimmel mit seinen kleinen Sternen sehen.
Ihr Husten beruhigte sich, aber ihr Herz raste, und am ganzen Körper brach ihr der Schweiß aus. Ihr Mund zitterte und sie hatte überhaupt keine Gewalt über ihre Hände, mit denen sie versuchte, ihr zerknittertes Kleid glatt zu streichen. Sie war so angewidert, fühlte sich so elend und so gedemütigt, daß sie sich nachdrücklich verbot, über das Geschehene nachzudenken. Sie bemühte sich, an harmlose, unverfängliche Dinge zu denken, während sie nach Hause lief, an Lady Cathleen, die heute wieder mit verweinten Augen aufgestanden war, an Gladys, die einen der fremden Köche so angeschrien hatte, daß er seine Arbeit niederlegte, an Nan, die schon in aller Frühe vor dem Armenhaus gesessen und die Geister in ihrer goldenen Kugel beschworen hatte.
Nur an Frederic konnte sie nicht denken. Er durfte nie erfahren, was heute geschehen war. Sie dachte an die Zartheit, mit der er sie küßte, und es war ihr, als sei die verschwiegene, geheimnisvolle Zärtlichkeit zwischen ihnen mit einem einzigen brutalen Schlag zerstört worden. Wie sollte sie ihn je wieder unbefangen umarmen können nach diesem Abend?
Mary umklammerte ihren Körper mit beiden Armen und stolperte vorwärts, taumelte gegen Hauswände und fiel einmal hin, in den stinkenden Unrat, den die Leute aus den Fenstern kippten, aber es kümmerte sie kaum. Sie hatte vorhin nicht weinen können, aber jetzt stieg ein Schluchzen in ihr auf und als sie in die Gasse bog, in der sie wohnte, weinte sie heftig. Sie hoffte von ganzem Herzen, daß weder Ambrose noch Edward da wären und daß sie möglichst auch Lettice nicht begegnen würde, sondern sich in aller Heimlichkeit in
ihre Kammer hinaufschleichen könnte, um sich dort zu verkriechen. Aber schon im Eingang begegnete sie ihrer Mutter.
»Ach, da bist du ja, Mary«, sagte sie gleichgültig und wollte einfach weitergehen, als ihr auffiel, daß ihre Tochter nicht einen Augenblick lang gerade stehen konnte, sondern völlig zusammengekrümmt an ihr vorüberschlich.
» Was ist denn, hast du Schmerzen?« Sie drehte Mary, die sich abgewandt hatte, zu sich herum und hob ihren Kopf. »Himmel, bist du bleich«, stellte sie fest, »und du weinst ja. Was ist denn los?«
»O Mutter!« Mary begann heftiger zu weinen und spürte deutlich, daß sie jeden Moment laut schreien würde. Durch ihre Tränen hindurch sah sie, daß Lettice sie verärgert anblickte. Sie hatte es nie leiden können, wenn ihre Kinder weinten.
»Nimm dich gefälligst zusammen«, befahl sie barsch, »sag was los ist oder laß es bleiben, aber hör auf zu heulen!«
Mary würgte ihre Tränen hinunter. Sie hätte gern weiter geweint, denn sie spürte, daß es ihr half, mit dem grauenhaften Erlebnis fertig zu werden. Aber sie mußte Lettice alles sagen, denn diesmal würde ihre Mutter sie verstehen, und wenn Ambrose und Edward heimkehrten, würde sie ihnen verbieten, jemals wieder so etwas zu tun.
»Mutter, es war so schrecklich«, rief sie, »vor dem Oakwood House bin ich sechs oder sieben Männern begegnet, gräßlichen, betrunkenen Kerlen. Vater und Edward waren auch bei ihnen. Sie
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