Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
sollte. Die Köchin hatte sie an jenem Tag zum Einkaufen geschickt, und Mary hastete mit zwei schweren Körben in den Händen durch die Straßen. Als ihr ein Straßenjunge in den Weg trat, der einen Stapel Flugblätter trug, hielt sie inne, ergriff das oberste und warf einen interessierten Blick darauf. Doch diesmal vermochte sie nichts zu verstehen. Zwar konnte sie den Namen von Anna Boleyn entziffern und daraus schließen, daß es sich offenbar um eine Attacke auf des Königs Mätresse handelte, aber die übrigen Worte waren ihr fremd. Sie glaubte zu erkennen, daß es sich um Französisch handelte, was sehr gut möglich sein konnte, weil in Frankreich und sonst überall auf dem Kontinent beinahe heftiger über Anna Boleyn hergezogen wurde als in England.
»Es ist zu dumm«, sagte Mary laut, »einfach zu dumm, wenn man nur eine einzige Sprache kann. Ich sollte Miss Brisbane bitten... « Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Sie eilte nach Hause, gab die eingekauften Vorräte in der Küche ab und lief die Treppe hinauf zu Anne Brisbanes Zimmer. Zwischen ihnen hatte sich ein so vertrauliches Verhältnis entwickelt, daß Mary jederzeit davon ausgehen durfte, daß Anne sie empfing. Sie klopfte an und trat ein. Anne war nicht allein. Neben ihr auf einem Sessel kauerte völlig zusammengesunken Lady Cathleen und bemühte sich, ihre Tränen zu trocknen.
»O Verzeihung«, sagte Mary und wollte wieder gehen, aber Cathleen hob den Kopf und sagte: »Bleib nur, Mary. Du störst nicht. Was gibt es denn?«
Sie sah sehr elend aus, ihre Augen waren so verschwollen, als habe sie stundenlang geweint.
»Es ist wirklich ganz unwichtig«, sagte Mary unbehaglich, »ich wollte nur etwas mit Miss Brisbane bespr...« Sie wurde unterbrochen von einem lauten Krachen, mit dem die Tür aufflog. Lord Cavendor stand auf der Schwelle und starrte Cathleen drohend an.
»Hier sind Sie«, sagte er langsam, »ich suche Sie überall. Warum sind Sie vorhin fortgelaufen?«
»Das wissen Sie doch«, entgegnete Cathleen trotzig, »ich habe
Ihnen gesagt, daß ich an dem Fest heute abend nicht teilnehmen möchte, und dabei bleibe ich auch!«
»Und warum wollen Sie nicht teilnehmen?«
»Das habe ich bereits erklärt. Ich mag die Leute nicht, die kommen, und denen ich präsentiert werde wie ein neues Stück aus Ihrem Besitz, die mich verstohlen mustern, weil ich mein Leben lang nur auf dem Land gelebt habe und die wissen wollen, ob man mir das ansieht. Und alle fragen sich, warum ich eineinhalb Jahre nach unserer Hochzeit immer noch nicht in anderen Umständen bin und...«
»Oh«, unterbrach Cavendor, »für letzteres hätte ich eine einleuchtende Erklärung. Da Sie jedesmal zu schreien anfangen, sobald ich auch nur einen Schritt auf Sie zukomme, fehlt es mir einfach an Gelegenheit, Sie in andere Umstände zu bringen! Eines können Sie mir glauben: Wenn ich es wirklich wollte, könnte mich Ihr hysterisches Gehabe nicht davon abhalten. Aber da ich mir statt Ihrer ebensogut einen toten Fisch ins Bett legen könnte, verzichte ich lieber. Ich halte mich anderweitig schadlos, seien Sie unbesorgt!«
Cathleen war zusammengesunken, ihre Augen wurden schmal, und leise fauchte sie: »Tun Sie es nur! Weiß Gott, ich kann es ertragen, Sie mit jeder anderen Frau in London zusammen zu wissen, wenn Sie mich dafür in Ruhe lassen! Mir wird übel, wenn ich Sie nur sehe, Robert Cavendor, Sie alternder, abstoßender, lüsterner Lebemann! «
»Das Kind ist hier«, warnte Anne, denn sie ahnte bereits einen heftigen Schlagabtausch, bei dem es Cathleen später leid tun würde, Zeugen gehabt zu haben.
»Ich gehe schon«, murmelte Mary, »ich kann ja nachher wiederkommen. «
Sie wollte eilig hinaushuschen, aber Cavendor, der sie zuvor nicht wahrgenommen hatte, hielt sie fest.
»Die kleine Mary ist ja auch hier«, meinte er anzüglich, »meinet— wegen brauchst du nicht zu verschwinden!« Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Er hatte sie bislang kaum wahrgenommen, denn sie war nur eines von vielen Dienstmädchen, die in seinem Haus herumliefen, aber heute schien er zum erstenmal mit einer gewissen
Überraschung die Lebendigkeit ihres Gesichtes wahrzunehmen und die lockige Fülle ihres rötlichen Haares. In seine Augen trat jener Ausdruck lächelnder Anerkennung, von dem mindestens hundert Frauen in London Mary hätten sagen können, daß er damit seine amourösen Verhältnisse begann.
»Sag ruhig, weshalb du hier bist«, ermunterte er, »was wolltest du mit Mylady
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