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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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dabei nicht zimperlich zu Werke. Sie lauerten an dunklen Straßenecken, und wenn ein Pferd vorüberkam, sprangen sie hervor, zerrten den Reiter blitzschnell herab, schnitten ihm die Kehle durch, raubten ihm Geld, Kleider und Waffen und verschwanden als unerkannte Schatten in der Dunkelheit. Vor den Toren der Stadt überfielen sie Reisende, die sie oft einfach am nächsten Baum aufhängten, ehe sie sich mit ihren Pferden aus dem Staub machten. Zwar verging keine Woche, in der nicht Straßenräuber und Taschendiebe auf dem Tyburnhügel hingerichtet oder in den Gefängnissen der Stadt gräßlich zu Tode gefoltert wurden, aber die Wirkung dieser Maßnahmen blieb gering. Die meisten Diebstähle fanden bei den Hinrichtungen statt, wenn die Menschen sich um den Galgen herum versammelten. Während der eine Räuber vor den Augen aller sein Leben ließ, nutzten seine Komplizen die allgemeine Aufmerksamkeit für ihre eigenen diebischen Zwecke, unbekümmert darum, daß bereits auf das Entwenden von zwei Pence die Todesstrafe stand.
    In dem ganzen ersten Jahr, das sie in London verbrachten, erforschte Mary das gesamte Nordufer, aber kein einziges Mal überquerte sie die London Bridge, um in jene Viertel vorzudringen, die sie nur aus unheimlich anmutenden Erzählungen kannte. In Marys Phantasie verdichtete sich alles darüber Gehörte zu einem Nebel schauriger Empfindungen, sie sah verhungerte Gestalten vor sich, abgekämpft und dem Tod weit näher als dem Leben, wie jene Menschen, die ihre ganze Kindheit im Armenhaus begleitet hatten. Da Mary zwölf Jahre lang vergeblich versucht hatte, diese Menschen zu begreifen, die sich ihrem Vater auslieferten, befiel sie nun eine steigende Neugier, die Abgründe kennenzulernen, aus denen jene Schicksalsergebenen kamen. Gleichzeitig begann sie, die fiebernd vor Sehnsucht danach gedrängt hatte, von ihrer Familie fortzukommen und sich fortan nur noch in den Kreisen einer Lady Cathleen zu bewegen, nun mit Hilfe ihres wachen Verstandes und einer frühreifen, intuitiven Sicherheit Cathleens Schwächen zu erkennen und sie sogar, beschämt zwar, aber unweigerlich, ein klein wenig zu verachten.
Sie begann zu begreifen, daß sie gerade durch die vielen abstoßenden, alptraumhaften Erlebnisse ihrer Kindheit eine Kraft gewonnen hatte, die Lady Cathleen bis ans Ende ihres Lebens nicht mehr erringen würde.
    Im März des Jahres 1530 war sie dreizehn geworden. Nun, 1531, feierte sie ihren vierzehnten Geburtstag, und sie war endgültig kein Kind mehr. Hellwach, scharf beobachtend, mit jenem blitzenden Schimmer in den Augen, den man früher nur an Lettice und Bess gesehen hatte, lief sie durch London, gekleidet wie ein Dienstmädchen aus besseren Verhältnissen, in einem Kleid aus grauen Leinen, einer blütenweißen Schürze darüber, eine saubere kleine Haube auf den sorgfältig aufgesteckten rotbraunen Haaren, die Nase hochgereckt und keinem einzigen Blick ausweichend, den ihr die Männer von Tag zu Tag häufiger nachsandten. London konnte sie nicht erschrecken. All die bösen Erlebnisse, die Nächte, die sie zitternd vor Kälte in einer Zimmerecke verbracht hatte, die Tage mit ihrem betrunkenen Vater und ihrem brutalen Bruder, die Ermordung ihrer Katze und die Begegnung mit den besoffenen Männern von Oakwood House hatten sie gelehrt, sich zu wehren. Kein Taschendieb hätte es geschafft, nah genug an sie heranzukommen, denn sie hatte jeden Fußbreit Boden um sich herum im Blick, wenn sie durch die Stadt ging. Sie konnte Pferden und Wagen blitzschnell ausweichen, sich durch Menschenansammlungen rücksichtslos hindurchdrängen, Bettler abschütteln, Händler hinunterhandeln, die allseits begehrten Flugblätter, die politische Wahrheiten am deutlichsten kundtaten, ergattern und sich gegen jeden Straßenjungen erfolg— reich zur Wehr setzen, der ihr irgendwelche Unverschämtheiten nachrief. Sie ließ sich von niemandem überlisten oder überraschen oder in Verlegenheit bringen.
    Mary hatte ein Zimmer unter dem Dach des Hauses zugewiesen bekommen, eine winzige Kammer mit weißgekalkten Wänden, in denen sich dunkelbraune Fachwerkbalken entlangzogen und einer Decke aus Holz, an der sich Spinnweben rankten. Es gab ein Fenster, das zwar kaum breiter war als ein Spalt, aber zur Themse hinausging. So konnte sie den Schiffen zusehen, die über das Wasser zogen und den Geruch von Wasser, Tang und Fisch atmen. In diesem
Zimmer erlebte sie die nebligen Wintermonate des Jahres 1529, den Beginn des Jahres 1530,

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