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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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unterdessen in einen Sessel gesetzt und verharrte dort regungslos. Von ihr war in dieser Nacht nichts mehr zu erwarten. Entschlossen faßte Anne die Arme des Toten.
    »Nimm die Beine, Mary«, befahl sie, »im Hof steht ein Karren.«
    Mit vereinten Kräften hoben sie Cavendor auf. Mary, die so oft zusammen mit Lettice die Leichen im Armenhaus herumgeschleppt hatte, stellte mit einem Stöhnen fest, daß Cavendor mindestens dreimal so viel wog wie die ausgemergelten Körper der Leute von Shadow’s Eyes. Sie betete zu Gott, daß es ihnen gelingen würde, ihn lautlos die Treppe hinunterzubringen. Ein Blick zurück zeigte ihr, daß sie wenigstens keine Blutspur hinterließen. Es blieb nur ein kleiner Flecken Blut auf dem Teppich zurück, den konnten sie später beseitigen.
    Die Treppe in die Halle hinunter war breit und geschwungen und mit dicken roten Läufern belegt. Einigermaßen geräuschlos langten sie unten an. Sie setzten ihre Last kein einziges Mal ab, obwohl beide meinten, sie müßten gleich zusammenbrechen. Anne war nervös, aber sie meisterte die unvorhergesehene Schicksalslaune, die es
ihr zumutete, mitten in der Nacht einen eben von seiner Frau erschlagenen Mann durch Londons Gassen zu tragen, mit derselben Kraft und Disziplin, die sie bei den alleralltäglichsten Schwierigkeiten auch an den Tag legte. Mary hatte plötzlich den Eindruck, daß Anne unter dieser neuen Situation weitaus weniger litt, als unter Cavendors Übergriff auf Cathleen einige Nächte zuvor.
    Sie liebt Cathleen sehr, dachte sie.
    Im Hof stand tatsächlich der breite, hölzerne Karren, mit dem die Küchenjungen einmal in der Woche zum großen Einkaufen auf den Markt gingen. Es war sehr schwierig, Cavendors toten Körper hinaufzuheben, noch schwieriger, Arme und Beine zu verstauen, damit sie nicht an den Seiten überhingen.
    »Wir brauchen eine Decke«, flüsterte Mary, »und zwei Mäntel. Wir können nicht in unseren Nachthemden gehen!«
    Anne verschwand noch einmal im Haus, um kurz darauf mit einer Decke und zwei Mänteln zurückzukehren. Eilig zogen sie sich an, deckten den Wagen zu, ergriffen jede mit einer Hand die Deichsel und verließen durch eine Pforte in der Mauer den Hof.
    Der Karren rumpelte laut über das Pflaster, so laut, daß es Mary schien, alle Leute müßten rechts und links aus den Häusern gestürmt kommen. Sie und Anne hatten sich die Kapuzen ihrer Mäntel über den Kopf gezogen und hielten das Gesicht gesenkt, um von niemandem erkannt zu werden. Beide wußten, daß es zwei tödliche Gefahren gab: ein Mensch, den sie kannten, und der sich später erinnern würde, sie gesehen zu haben, oder die Miliz, die häufig Passanten kontrollierte und den Inhalt von Körben und Wagen sehen wollte.
    Ein Bettler kam ihnen entgegengeschwankt, grinste mit zahnlosem Mund und griff mit dürren, gespreizten Fingern nach Annes Mantel. Sie riß sich angewidert los und schleuderte dem Alten ein Schimpfwort entgegen, das Mary kurz ihre Angst vergessen und bewundernd staunen ließ. Sie hätte nie gedacht, daß Anne solche Worte kannte. Je näher sie der London Bridge kamen, desto mehr Menschen waren in den Straßen. Anne wurde immer nervöser. Sie leckte sich ununterbrochen über die Lippen.
    Mary hoffte, Anne würde nicht aufgeben müssen. Es trieb sich
viel Gesindel auf der Brücke herum, oftmals wurden den beiden Frauen verstohlene Blicke nachgesandt. Bei Tag wie bei Nacht gab es in der Stadt viele Raubüberfälle, und sicher rätselten einige der zwielichtigen Gestalten, was sich wohl unter der Decke in dem zweirädrigen Karren befand und ob sich der Versuch eines Diebstahls lohnte. Für Mary und Anne würde es keine Möglichkeit geben, sich zu verteidigen, sie könnten nur fortlaufen und hoffen, daß niemand sie erkannt hätte.
    Am anderen Ufer begaben sie sich gar nicht erst in die verwirrende Straßenvielfalt der Docks, sondern hielten sich dicht am Ufer der Themse. An einer stillen, menschenleeren Stelle wollten sie ihre Last so schnell wie möglich loswerden. Beide bemühten sich, nicht in die dunklen Wellen zu blicken, die ihnen niemals zuvor so düster und unheimlich erschienen waren. Sie fühlten sich müde und verfroren, ihre Arme schmerzten, die Füße brannten. Unter ihnen knirschte feiner Sand. Mary blieb stehen.
    »Niemand ist hier«, flüsterte sie, »wir können jetzt...«
    Sie lauschten in die Nacht, aber sie vernahmen nichts als das Gluckern des Wassers und das Rauschen der Bäume im sanften Wind. Anne nickte

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