Die Sternseherin
eine Raum trotz der billigen Möbel wohnlich wirkte, war der andere kahl und unpersönlich. Ein Bett, ein Tisch, eine Kommode. Nicht einmal eine Tapete. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne, als habe es die Bewohnerin nicht für notwendig gehalten, sich zumindest mithilfe von Licht ein wenig Behaglichkeit zu schaffen. Der Duft der Mutter war hier stärker, roch aber irgendwie unfeenhaft. Ob sie krank war?
Asher stieg die Stufen wieder hinab, öffnete eine Tür unter der steilen Treppe, doch statt des erwarteten Kellerzugangs fand er eine Toilette. Immerhin, die gab es – und einen Hinterausgang auch. Der war unverschlossen und führte in einen handtuchschmalen Hof, der nach Müll stank und nach Katzendreck. Angeekelt schloss er die Tür. In der Wohnküche hatte jemand versucht, etwas Gemütlichkeit zu erzeugen. Billige Kitschtiere bevölkerten Häkeldeckchen, die abgewetzte Auslegware zierte ein fadenscheiniger Läufer und im Fenster stand eine einsame Topfpflanze, die immerhin gedieh. Das gesamte Haus atmete Armut und Resignation. Die eleganten Tüten zu seinen Füßen, offenbar die Einkäufe, von denen Estelle gesprochen hatte, wirkten wie Fremdkörper. Schnell sah er sie durch und entdeckte darin mehr, als er im Kleiderschrank oben gesehen hatte. Er ging trotzdem noch einmal hinauf, zog fadenscheinige Jeans und zwei T-Shirts aus dem Schrank und griff zum Schluss nach einem ziemlich neu aussehenden Paar Stiefel. Die konnte Sara sicher gebrauchen. Beim Hinausgehen sah er den geflickten Teddy auf dem Bett sitzen und aus einem Impuls heraus steckte er das räudige Ding in die Tasche, kehrte zurück und stopfte die Einkäufe zusammen in eine besonders große Tüte. Für nichts in der Welt wollte er bei Nell so auftauchen wie in Dublin, als er Estelles Einkäufe durch die halbe Stadt hinter ihr hergeschleppt hatte. Er durfte nicht vergessen, seinem Bruder die horrenden Ausgaben zu ersetzen. Ein letztes Mal sah er sich vor dem Eintritt in die Zwischenwelt um, da fiel ihm ein Zettel auf, der am Küchenschrank steckte. »Soeben sind deine hübschen Kleider angekommen, ich freue mich für dich. Jetzt bist du erwachsen und hast einen Job, mehr kann ich nicht für dich tun. Lebe wohl!«, las er und war schon versucht, den Brief zusammenzuknüllen und fortzuwerfen. Wie konnte sie ihrer Tochter so einen Abschiedsbrief schreiben!, doch dann überlegte er es sich anders, steckte den Zettel ein und fand sich wenig später am Eingang zu Nells Nachtclub wieder. Der sterbliche Türsteher wollte ihn erst mit seinem Paket unter dem Arm nicht einlassen. Bevor Asher ein wenig nachhelfen musste, erschien ein Vampir und winkte ihn herein. »Wir habe auch noch einen offiziellen Zugang zum Haus«, erklärte er säuerlich.
»Ich war gerade in der Nähe«, behauptete Asher, der diesen Eingang gewählt hatte, weil er Nell sprechen wollte. »Könntest du dafür sorgen, dass dies in mein Zimmer gebracht wird? Ist Nell im Club?«
»Ich werde nachsehen, ob sie Gäste empfängt.«
»Für meinen Lieblingsvengador habe ich immer Zeit.« Die Vampirin schob ihren Assistenten beiseite und hakte sich bei Asher unter. Der Vampir, der schon für Eleanor tätig gewesen war, lange bevor sie die Stellvertreterin des Rats wurde, hatte Asher nie besonders geschätzt. Das mochte daran liegen, dass er zu häufig den Platz in Nells Bett räumen musste, wenn der Vengador in die Stadt kam.
Sie entließ ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Du kannst gehen und bring dem Mädchen dieses merkwürdige Paket!«
Nell wandte sich wieder Asher zu. »Was kann ich für dich tun?«
Das hatte er befürchtet. Sie sah aus, als dachte sie schon jetzt über die Bezahlung der Gefälligkeiten nach, die sie ihm heute zweifellos erwiesen hatte.
»Die alten Zeiten sind vorbei, Nell!«
Sie schob die Unterlippe vor, als wollte sie schmollen, aber dann sah sie ihn genauer an. »Es ist dir tatsächlich Ernst. Glückliche kleine Fee. Wollen wir hoffen, dass sie die Transformation übersteht.«
»Was weißt du davon?«
»Keine Sorge, es gehört zu meinen Aufgaben, solche Dinge zu wissen, nicht sie zu verbreiten. Weiß sie schon etwas von ihrem Glück?«
»Niemand in der Familie ahnt etwas.«
»Nicht einmal dein Bruder? Meine Güte, das wird dem Kontrollfreak gar nicht gefallen!«
Asher musste lachen. »Du bist eine echte Freundin Nell, es wäre schön, wenn das auch in Zukunft so bliebe.«
»Dummerchen, du bist einer der wenigen geborenen Vampire, denen ich vertraue,
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