Die Sternseherin
einer wunderbaren Gefährtin, sie gehört zur Familie und meine Aufgabe ist es, sie zu beschützen. Im Wesentlichen vor sich selbst, will mir scheinen.«
»Aber warum hast du sie nicht einfach an dich gebunden? Dann hätten wir jetzt keine Probleme, sie zu finden, und außerdem wäre sie auch nicht so schrecklich – sterblich!«
»Du denkst wirklich, das würde funktionieren?« Hoffnung schimmerte in seinen Augen. Julens Antwort machte sie sofort wieder zunichte.
»Wahrscheinlich nicht, sie ist viel zu sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht«, gab er zu.
»In der Tat, das befürchte ich ebenfalls.« Asher sah nicht einmal auf die Uhr, als er verkündete: »In spätestens sechs Stunden brechen wir auf, du stellst dir besser einen Wecker. Ich nehme an, heute gehört mir das Sofa?«
Julen war versucht, seine Frage zu bejahen. Schon allein, um sich für Ashers Bemerkung zu revanchieren. Einen Wecker sollte er sich stellen? Doch dann besann er sich. »Angesichts deines Alters werde ich dir diese Erfahrung ersparen. Ich habe ein Gästezimmer.« Er stieß eine Tür auf. »Hier findest du alles, was du brauchst. Guten Tag.« Er streckte sich und gähnte, schlurfte zu seinem Schlafzimmer und drehte sich noch einmal um. »Denk nicht einmal im Traum daran, ohne mich in die Bretagne zu gehen!« Damit war er verschwunden, das feine Lächeln seines Gastes sah er nicht mehr.
Asher lauschte, bis er den herannahenden Schlaf des anderen Vampirs vernahm. Er musste wider Willen schmunzeln und unternahm dann einen kurzen Ausflug. Bald darauf ließ er die mitgebrachte Tasche achtlos auf den Boden fallen, warf sich daneben aufs Bett, kreuzte die Füße übereinander und schloss seine Augen. Noch fünf Stunden.
Etwa zur gleichen Zeit erwachte Estelle, sie hatte Durst und sah sich suchend um. Trotz der nahezu vollständigen Dunkelheit konnte sie die Umrisse ihrer Freundin neben sich sehen. Das Herz der Fee gleichmäßig schlagen zu hören, gefiel ihr, der Rhythmus hatte etwas sehr Belebendes. Sie beugte sich über die Schlafende und atmete tief ein. Bisher war ihr noch gar nicht aufgefallen, wie appetitlich Manon duftete. Tatsächlich stieg ihr ein so köstlicher Duft in die Nase, dass ihr das Wasser im Munde zusammenlief und sie unwillkürlich den Mund öffnete, um noch mehr von diesem Aroma aufzunehmen. Die feinen Knospen ihrer Zunge meldeten den zitronenfrischen Geschmack feinblättriger Melisse, der rasch von einer pfeffrigen Note verdrängt wurde. Sie beugte sich tiefer über die Schlafende und eine unbändige Lust auf dunkle Schokolade überrollte sie. Ihr Herz pochte laut gegen den Käfig ihres Brustkorbs. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, da änderte sich der Rhythmus des Klopfens. Nicht ihr Herz – jemand stand vor der Tür. Mit einem unwilligen Grollen hob sie ihren Kopf und hörte eine vertraute Stimme: »Ich bin es. Bitte mach auf!«
Estelle riss die Tür auf und blickte erschrocken zwischen der Klinke in ihrer Hand und Selena hin und her, die seelenruhig ins Zimmer spazierte. Unauffällig steckte sie das Eisen zurück und schloss die Tür behutsam. Dann umarmte sie ihre Schwester. »Ich bin so froh, dich gefunden zu haben!«
Selena befreite sich schließlich. »Ich freue mich auch, dich zu sehen. Aber warum bist du hier?«
Anstelle einer Antwort beugte Estelle sich vor und schnupperte. »Du riechst gut, ist das ein neues Parfüm?«
»Wie kommst du darauf?«
Plötzlich bewegte sich jemand in der Dunkelheit und Selena hielt ihre Hand vor den Mund, um einen erschreckten Laut zu ersticken.
Estelle wusste auch ohne sich umzudrehen, was so Erstaunliches hinter ihr stattfand. Ihre »gute Fee«, wie sie Manon in Gedanken nannte, war erwacht und blinzelte herüber. »Das ist meine Freundin, sie hat mich begleitet. Wir wohnen übrigens auch sonst zusammen.«
Die so Vorgestellte zog die Bettdecke etwas höher und winkte fröhlich. »Hallo! Bitte entschuldige meinen Aufzug, wir hatten es ziemlich eilig, ins Bett zu kommen.«
»Weiß Asher davon?«
»Hoffentlich nicht, er wäre schneller hier, als ich seinen Namen aussprechen kann. Aber wir waren sehr vorsichtig, mit etwas Glück entdeckt er uns nicht so schnell.« Auf einmal wurde Estelle bleich, sie hielt sich am Türrahmen fest. »Ich glaube, mein Kreislauf spinnt.« Damit schwankte sie zum einzigen Stuhl im Raum und ließ sich schwer darauffallen.
Manon war sofort auf den Beinen. Sie knipste das Licht an, lief rasch ins Bad und ließ einen Zahnputzbecher
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