Die Sternseherin
schwören können, dass er sein Handtuch absichtlich von den Hüften gleiten ließ, kurz bevor die Tür sich lautlos hinter ihm schloss. Am liebsten hätte sie den gläsernen Aschenbecher nach ihm geworfen, der gerade in Reichweite stand. »Worauf wartest du? Etwa darauf, dass er sich in dich verliebt und nie mehr Blut trinkt? Eher friert die Hölle zu!«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.
Du hast keine Ahnung von Abaddon, süße Fee. Atemberaubender Sex wäre für den Anfang völlig ausreichend, und er ist gut, du weißt es!, schien der Spiegel ihr zu antworten. Gib es zu, gestern hättest du bei Julen auch nicht Nein gesagt und heute bist du scharf auf Asher. Keiner von beiden würde lange zögern. Du bist eine Feentochter, warum verleugnest du dein Erbe?
Ihr Gesicht glühte und sie wandte sich ab. Stimmen zu hören war die neueste Variation ihrer verdrehten Begabung und sie musste sich beruhigen, anderenfalls drohte womöglich noch ein Anfall. Über den Inhalt dieser bizarren Unterhaltung wollte sie lieber gar nicht nachdenken.
Asher betrachtete sich derweil zufrieden im Spiegel. Nicht nur, weil es ihm gelungen war, die Leidenschaft in der kleinen Fee zu wecken, sondern auch, weil sich das Martyrium des Einkaufs gelohnt hatte. Vampire haben kein Spiegelbild? Ja, natürlich! Dies galt sicherlich nicht für Dunkelelfen wie ihn. Er beschloss, dass es Zeit wurde, seine Tarnung als unscheinbarer Buchliebhaber aufzugeben. Und als er genauer hinsah, blickte ihm aus dem geschliffenen Glas ein scheinbar völlig Fremder entgegen, der den Vergleich mit seinem stets gut gekleideten Bruder Kieran nicht zu scheuen brauchte. Zufrieden schlenderte er aus dem Zimmer und erstarrte in der Bewegung. Kalte Duschen hielten bei Vampiren offenbar nicht lange vor. Mein Gott, diese Fee trug ihren Namen zu Recht. Sie strahlte wie ein Stern und ihr Anblick raubte ihm jedes Mal erneut den Atem. Sie balancierte jetzt auf zierlichen Sandalen, die ihre Beine noch länger erscheinen ließen und die ihr erlaubten, ihm gewissermaßen auf Augenhöhe zu begegnen. In seiner Jugend hatte er mit seiner Größe Aufsehen erregt, wann immer er durch die Straßen Veronas schritt, heute waren die Frauen ihm in ihrem Wuchs ebenbürtig. Das herrliche Haar hatte Estelle leider hochgesteckt, doch schon befreiten sich erste Strähnen aus der Gefangenschaft und weckten in Asher den Wunsch, alle Spangen und Nadeln zu entfernen, so wie er es in ihrer gemeinsamen Vision getan hatte.
Stattdessen half er ihr in den Mantel und raunte dabei: »Du bist wunderschön!«
»Du siehst auch nicht übel aus!« Dieses Kompliment fiel Estelle nicht schwer. Sie hatte zwar gehofft, die richtige Wahl getroffen zu haben, als sie ihm gemeinsam mit dem Verkäufer ein Outfit nach dem anderen ausgesucht hatte, aber einen solchen Erfolg hatte selbst sie nicht voraussehen können. Hätte sie geahnt, dass sein unauffälliges, ja geradezu langweiliges Aussehen Teil der Tarnung des ehemaligen Vengadors war, wäre sie vielleicht an diesem Abend weniger selbstgefällig die Stufen zu einem sehr exklusiven Club hinaufgeschritten. Auch hier winkten sie die Türsteher durch, während andere Gäste im kalten Wind der Dezembernacht erwartungsvoll fröstelten. Kaum hatten sie es sich in den Polstern einer Sitzecke bequem gemacht, erschien ein Mann in eleganter Abendkleidung und raunte Asher etwas ins Ohr. Die Musik verhinderte bedauerlicherweise, dass sie seine Worte verstand, aber Asher nickte und streckte seine Hand nach ihr aus. »Ich möchte dir jemanden vorstellen.« Lautlos flüsterte er: Wir wurden erwartet. Lass mich reden und lächele.
Dazu hätte sie einiges zu sagen gehabt und auch zu seinem Eindringen in ihre Gedanken, aber der Mitarbeiter des Clubs sah grimmig aus und sie entschied, dass für Fragen später noch ausreichend Zeit sein würde. Hoffentlich. Gemeinsam gingen sie zu einer unauffälligen Tür, die sich wie von Geisterhand öffnete, und standen wenig später vor einem breiten Schreibtisch. Alles an dem Mann, der die Neuankömmlinge musterte, schrie »Vampir«, und Estelle musste sich beherrschen, um keine Anzeichen von Panik zu zeigen. Dieser Bluttrinker machte keinen Hehl aus seinen Vorlieben und starrte unverhohlen auf ihren rasenden Puls. Als spürte er ihre aufkeimende Panik, legte Asher beruhigend seine Hand auf ihre Taille. Sofort entspannte sie sich.
»Willkommen!« Der Mann beendete seine unverschämte Musterung, erhob sich und deutete eine Verbeugung an. »Es
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