Die stillen Wasser des Todes - Roman
sie ihm von ihrer Begegnung mit Angus Craig erzählt hatte, bereitete ihr Sorgen. Ihr Mann – sie hatte sich immer noch nicht ganz daran gewöhnt, ihn so zu nennen – ihr Mann war im Grunde ruhig und besonnen; jemand, der erst einmal gründlich nachdachte, ehe er handelte. Aber gerade weil es so lange dauerte, bis er wirklich wütend wurde, war seine Reaktion dann umso heftiger, und was sie gestern Abend in seinem Gesicht gesehen hatte, war kalter Zorn.
Sie konnte ihr Erlebnis mit Craig nicht herunterspielen – sie war sich so sicher wie nur selten in ihrem Leben, dass sie an jenem Abend in Leyton in echter Gefahr geschwebt hatte. Und sie hätte es Kincaid auch nicht verschweigen können. Aber nun hatte sie große Angst, dass er etwas Unüberlegtes tun würde.
Und sie fühlte sich hilflos und frustriert, weil sie von den Ermittlungen ausgeschlossen war und keinerlei Einfluss auf den Lauf der Dinge hatte.
Ihre Hoffnung, dass sie zusammen mit Melody etwas Brauchbares zutage fördern könnte, hatte sich bislang zerschlagen, wenngleich Melody versprochen hatte, weiter in den Akten zu suchen.
Gemma glaubte nicht, dass sie sich geirrt hatte, was Craigs Verhaltensmuster betraf. Aber vielleicht war sie zu optimistisch gewesen, als sie angenommen hatte, dass andere Polizeibeamtinnen, die zu Craigs Opfern zählten, die Vergewaltigung angezeigt hätten, ohne den Täter namentlich zu nennen.
»Bitte sehr, kleines Fräulein«, sagte Betty. Während Gemma ihren Gedanken nachgehangen hatte, hatte Betty das Band gerafft und auf der Maschine zu einer Schleife genäht, um diese dann mit ein paar raschen Stichen an dem Clip zu fixieren. Nun befestigte sie das Ganze in Charlottes lockigem Haarschopf.
Übers ganze Gesicht strahlend, betastete Charlotte behutsam die Schleife und lief dann zu Gemma. »Will sehen!«
»Oh, wow!«, rief Gemma und drehte Charlotte im Kreis, um den Effekt besser bewundern zu können. »Ich weiß gar nicht, ob du mehr wie Alice oder wie eine Prinzessin aussiehst. Komm, wir schauen uns das mal an, ja?« Sie kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Taschenspiegel, als sie die Anzeige an ihrem Handy blinken sah. Wie hatte ihr der Anruf entgehen können?
Ihr Herz machte einen kleinen Satz, wie immer, wenn sie von den Kindern oder von Duncan getrennt war. Doch als sie in den entgangenen Nachrichten nachsah, stellte sie fest, dass es Melody war, die angerufen und dann eine SMS hinterhergeschickt hatte.
Der Text lautete: »Müssen reden, Chefin. Dringend!«
Gemma blickte auf. »Betty, hättest du etwas dagegen, wenn Charlotte noch ein bisschen hierbleibt? Mir ist etwas dazwischengekommen.«
Kincaid lenkte den Wagen aus Craigs gekiester Zufahrt auf die Straße, die nach Hambleden zurückführte. Die Dämmerung hatte sich auf die Dächer gesenkt und tauchte den Weiler in zarte Rosa- und Goldtöne. In den Häusern gingen die Lichter an und verwandelten die Fenster in leuchtende Inseln, und aus den Schornsteinen kringelten sich Rauchwölkchen gen Himmel.
Es war das reinste Klischee, dachte Kincaid, während er das Dorf betrachtete und versuchte, sich von der Wut, von der ihm immer noch die Hände zitterten, nicht überwältigen zu lassen. Eine perfekte Idylle, in deren Mitte ein Ungeheuer hauste.
Das Schöne und das Böse, untrennbar miteinander verwoben.
Ahnten die Menschen hier nichts von diesem Bösen? Oder wussten sie sehr wohl davon, waren aber machtlos?
Als vor ihm das Stag and Huntsman auftauchte, hielt er spontan an. Er würde sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, es herauszufinden. Und wenn er Craigs Alibi nicht jetzt gleich überprüfte, ehe sein Chef von seinem Besuch bei Craig erfuhr, würde er vielleicht keine zweite Chance mehr bekommen.
Er fand eine Lücke für den Astra, stieg aus und schloss den Wagen ab. Nach kurzem Überlegen schaltete er sein Handy aus, ehe er das Lokal betrat. Es konnte nicht schaden, wenn er sich ein bisschen Zeit verschaffte.
Das Stag and Huntsman war, wie er auf den ersten Blick sah, ein sehr einladendes Lokal, altmodisch im positiven Sinn und nicht künstlich auf urig getrimmt. Eine Kneipe, in der man gerne vor dem Abendessen auf ein Bierchen vorbeischaute.
Es war noch nicht viel los; die wenigen Gäste waren offenbar Einheimische, und dem Anschein nach fühlten sie sich hier wie zu Hause. Kincaid hoffte nur, dass Angus Craig heute ausnahmsweise auf seinen gewohnten Vorabenddrink verzichten würde.
Kincaid ging gleich in den kleinen Nebenraum, setzte
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