Die stillen Wasser des Todes - Roman
gut.«
»Hast du es denn als Kind nicht gelesen?«, fragte er überrascht. Aber Gemma kam aus einer Familie, in der nicht viel gelesen wurde, und die Kinderbücher bedeuteten für sie eine spannende Entdeckungsreise.
Jetzt gluckste Charlotte, als er die Bettdecke bis an ihre Nasenspitze hochzog, doch dann strampelte sie sich prompt wieder frei und tippte mit dem Finger auf das Buch. »Nein. Die ›Trink-mich‹-Stelle.«
Gehorsam blätterte er zu der Seite zurück und begann: »›Was für ein ulkiges Gefühl‹, sagte Alice. ›Anscheinend schiebe ich mich jetzt zusammen wie ein Fernrohr.‹
Und so war es in der Tat: Sie war höchstens noch eine Spanne groß, und ihre Miene hellte sich auf, als ihr einfiel, dass sie jetzt durch die kleine Tür passte, um in den herrlichen Garten zu gelangen. Vorher aber wartete sie noch eine Weile ab, ob sie nicht noch weiter am Schrumpfen war; dieser Gedanke beunruhigte sie etwas, ›denn es könnte ja passieren‹, sagte sich Alice, ›dass ich am Ende völlig ausgehe wie eine Kerze. Wie ich dann wohl aussähe?‹«
»Pffft«, unterbrach Kincaid die Lektüre und blies eine imaginäre Kerze aus.
»Das hast du dazugemacht«, sagte Charlotte. »Das gilt nicht, sich einfach Sachen ausdenken.«
»Der Mann, der die Geschichte geschrieben hat, Lewis Carroll, hat sich das alles ausgedacht. Das ganze Buch.«
Charlottes Augen wurden ganz groß, und dann schüttelte sie den Kopf. »Auch Alice?«
»Ja, auch Alice.«
»Nein«, erwiderte Charlotte voller Überzeugung. »Das ist ja Quatsch. Es ist doch die Geschichte von Alice. Meinst du, es hat Alice Spaß gemacht, kleiner zu werden?«
Kincaid dachte über die Frage nach. »Ich weiß es nicht. Würde es dir Spaß machen?«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will größer werden.«
Die Antwort versetzte Kincaid einen Stich, doch er sagte nur: »Dann solltest du jetzt die Augen zumachen und schlafen, denn je eher es morgen ist, desto kürzer ist die Zeit bis zu deinem Geburtstag.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
»Also gut.« Charlotte machte die Augen fest zu, doch einen Moment später riss sie sie wieder auf. »Bleibst du hier, bis ich ganz fest schlafe?«
»Ja. Versprochen.«
»Schaust du später noch mal nach mir?«
»Ja. Und jetzt kuschel dich schön zusammen und träum süß.« Er zog die Decke wieder hoch, und diesmal legte Charlotte ihre Hand auf seine und hielt sie unter ihrem Kinn fest.
Es dauerte nicht lange, da zuckten ihre Lider und schlossen sich, und zu seinem Erstaunen spürte er, wie ihre Hand sich bereits entspannte; bald darauf erkannte er an ihren tiefen, regelmäßigen Atemzügen, dass sie eingeschlafen war.
Er betrachtete ihre Hand, die auf der seinen lag, und dachte sich, dass er noch nie so etwas Wunderschönes gesehen hatte. Ihre winzigen, hellbraunen Finger waren leicht gekrümmt, ihre Nägel wie rosa Perlen. Es kam ihm wie ein Wunder vor, dass dieses Kind so unvermutet in sein Leben getreten war und dass sie begonnen hatte, ihn ins Herz zu schließen. Und er wollte alles daransetzen, ihr stets der Vater zu sein, den sie verdiente.
Ganz behutsam berührte er mit den Lippen ihre Wange und zog seine Hand unter ihrer heraus.
Als er aufblickte, sah er, dass Gemma in der Tür stand und sie beide beobachtete. Sie lächelte. »Du wirkst ja wahre Wunder.«
»Nicht ich, Alice. « Er stand auf. »Und Toby?«
»Liest gerade etwas nicht ganz so Anspruchsvolles. Fluch der Karibik als Comic.«
»Na, solange es nicht der Daily Mirror ist.«
»Jedenfalls noch nicht.« Sie musterte ihn. »Komm doch mit runter in die Küche. Ich wollte gerade Teewasser aufsetzen, und dann kannst du mir erzählen, was heute passiert ist.«
Wenig später saßen sie in der Küche. Die Hunde hatten es sich zu ihren Füßen bequem gemacht, und zwischen ihnen auf dem Tisch thronte Gemmas kostbare Clarice-Cliff-Teekanne. Doch sie tranken den Tee aus angestoßenen Henkelbechern – Schätzen, die sie beim samstäglichen Bummel über den Portobello-Markt erstanden hatten. Kincaid hatte nach Toby und Kit geschaut, und als er mit den Hunden hinausgegangen war, hatte er festgestellt, dass es noch immer leicht regnete und dass es kälter geworden war. Doch in der Küche strahlte der dunkelblaue Aga-Herd eine wohlige Wärme aus.
Nachdem Kincaid seine Gedanken geordnet hatte, berichtete er Gemma, was er an diesem Vormittag über Rebecca Meredith’ Tod erfahren hatte. Anschließend gab er ihr – ein wenig zögerlicher – eine
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