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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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sprudelnden Quellen zu verstopfen, die Münder, die lustvoll endlose Ketten von Fragen stellten, zu verschließen, und so wurde, da sich der Beweis nun mal nicht widerlegen ließ, es unerläßlich, ihn zu ignorieren.
    Diese Worte hat nicht gekränkte Eigenliebe hervorgebracht. Die Arbeiten, für welche ich aufs Postament gehoben wurde, liegen auf anderen Gebieten – in der reinen Mathematik. Jene Erfahrung jedoch war über die Maßen lehrreich. Wir unterschätzen für gewöhnlich, wie starr die Denkgewohnheiten in den einzelnen Zweigen der Wissenschaft sind. Im übrigen ist das psychologisch auch verständlich. Der Widerstand, den wir einer statistischen Darstellung entgegenbringen, ist in der Atomphysik wesentlich leichter zu brechen als in der Anthropologie. Eine klar aufgebaute statistische Theorie des Atomkerns billigen wir gern, sofern das Experiment sie nur bestätigt. Wir machen uns mit dieser Theorie vertraut, ohne hinterher zu fragen: »Na schön, aber wie verhalten sich die Atome denn nun wirklich ?«, denn wir sehen ein, daß eine solche Frage sinnlos wäre. Doch gegen ähnliche Neuheiten auf dem Gebiet der Anthropologie wehren wir uns bis zum letzten.
    Seit vierzig Jahren ist bekannt, daß sich der Unterschiedzwischen einem edlen, rechtschaffenen Menschen und einem aberrativen Unhold auf den Verlauf einiger weniger Stränge weißer Hirnsubstanz zurückführen läßt und daß eine einzige Bewegung des Skalpells, bei der diese Stränge in der Frontalhirnregion beschädigt werden, einen trefflichen Geist in eine niederträchtige Kreatur verwandeln kann. Allein, wie viele Anthropologen – von den Humanphilosophen ganz zu schweigen – nehmen diesen Tatbestand gar nicht zur Kenntnis! Ich selbst bilde da übrigens keine Ausnahme; ob Wissenschaftler oder Laie, wir finden uns am Ende drein, daß unser Körper, je älter wir werden, immer mehr verschleißt, aber unser Geist?! Wir sähen ihn so gern als etwas, das einem störungsanfälligen Mechanismus überhaupt nicht ähnelt. Wir lechzen nach Vollkommenheit – und sei sie auch mit einem negativen Vorzeichen versehen, sei sie auch schimpflich oder sündhaft –, sofern sie uns nur die eine einzige Erklärung erspart, die schlimmer ist als der Teufel: daß es sich hier um ein Spiel bestimmter Kräfte handelt, die dem Menschen total gleichgültig gegenüberstehen. Und da unser Denken sich in einem Kreis bewegt, aus dem auszuscheren uns nicht möglich ist, gebe ich zu, daß die Worte eines unserer bedeutendsten Anthropologen in gewissem Sinn berechtigt waren; er sagte mir, ich weiß es noch genau: »Die Befriedigung, die du zur Schau stellst, weil du die Zufälligkeit der menschlichen Natur bewiesen hast, ist nicht rein; das ist nicht allein Freude an der Erkenntnis, sondern auch der Spaß daran, etwas in den Dreck zu treten, was andern lieb und teuer ist.«
    Sooft mir diese meine verkannte Arbeit wieder einfällt, kann ich mich des wenig erbaulichen Gedankens nicht erwehren, daß es noch mehr derartiger Arbeiten auf Erden geben muß. Eine Fundgrube für potentielle Entdeckungen befindet sich bestimmt in mancher Bibliothek, doch sie wurde von den zuständigen Leuten nicht wahrgenommen.
    Wir haben uns an die klare Situation gewöhnt, wo, was dunkel und unbekannt ist, vor der geschlossenen Front der Wissenschaft ausgebreitet wird, was erreicht und verständlich ist, hingegen ihr Hinterland bildet. Im Grunde ist es jedoch einerlei, ob das Unbekannte im Schoße der Natur verborgen liegt oder auch begraben in den Scharteken ungelesener Buchbestände, denn Inhalte, die in den Blutkreislauf der Wissenschaft nicht eingeflossen sind und nicht befruchtend darin zirkulieren, existieren für uns praktisch nicht. Die Aufnahmefähigkeit der Wissenschaft einer jeden historischen Zeit für eine radikal abweichende Betrachtungsweise der Erscheinungen ist in Wahrheit nicht sehr groß. Wahnsinn und Selbstmord eines der Schöpfer der Thermodynamik sind dafür nur ein kleines Beispiel.
    Unsere Kultur in ihrem angeblich führenden, wissenschaftlichen Teil ist ein enges Gebilde, ist eine Sicht, die jedesmal wieder eingeengt wird durch eine historisch erstarrte Konstellation unzähliger Faktoren, unter denen die Zufälle, als unumstößliche Richtlinien der Methodologie anerkannt, eine vorrangige Rolle spielen können. Ich schreibe das alles nicht von ungefähr.
    Wenn unsere Kultur nicht einmal imstande ist, sich Auffassungen, die in den Köpfen von Menschen entspringen, geschickt

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