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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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sich schon nicht traut, durch Taten an ihnen teilzunehmen. Wenn man die Sache derart radikal verkehrt, wird das, was ich für unangenehm, aber notwendig hielt, weil das Thema es verlangte, zum Hauptmotiv meines ursprünglichen Vorhabens, das ganze eigentliche Thema aber – das »Master’s Voice«-Projekt – zum Vorwand, der mir gerade gut zupasse kam. Im übrigen läßt sich das Skelett dieser Betrachtungsweise, die ich als »Karusselldenken« bezeichnen möchte, weil es sich im Kreise dreht und Voraussetzungen und Ergebnisse immerzu die Plätze tauschen, wiederum auf die Problematik des Projekts selbst übertragen. Unser Denken braucht den hartenZusammenprall mit Tatsachen, sie machen es nüchterner und korrigieren, und wenn ein solches Korrektiv nicht vorhanden ist, projizieren wir sehr leicht unsere verborgenen Mängel – oder auch Tugenden, das kommt auf das gleiche hinaus – auf den Gegenstand der Untersuchung. Philosophische Systeme auf die Unzulänglichkeiten im Lebenslauf ihrer Schöpfer zurückzuführen gilt – ich weiß Bescheid – als ebenso trivial wie unerlaubt. Doch auf dem Grunde der Philosophie, die immer mehr sagen möchte, als zu einem gegebenen Zeitpunkt möglich ist, weil sie ein Versuch ist, die Welt in einem geschlossenen Begriffsnetz »einzufangen«, verbirgt sich gerade in den Schriften der bedeutendsten Denker eine spürbare Hilflosigkeit.
    Das Ringen des Menschen nach Erkenntnis, das ist ein Prozeß, dessen Ziel im Unendlichen liegt, die Philosophie aber ist der Versuch, dieses Ziel auf Anhieb, durch einen Kurzschluß zu erreichen, der uns ein vollkommenes und unerschütterliches Wissen verbürgt. Die Wissenschaft unterdessen bewegt sich in so winzigen Schrittchen vorwärts, daß es manchmal wie ein Kriechen anmutet, mitunter sogar wie ein Auf-der-Stelle-Treten, doch sie dringt am Ende bis zu mancherlei endgültigen Schanzen vor, die das philosophische Denken gegraben hat, und geht, ohne zu beachten, daß ja dort die ultimative Grenze des Verstandes hatte verlaufen sollen, weiter.
    Wie sollte das die Philosophen nicht in Verzweiflung stürzen? Eine besonders aggressive Form solcher Verzweiflung war der Positivismus, weil er den treuen Verbündeten spielte und eigentlich die Wissenschaft ausschaltete. Das, was die Philosophie bis dahin unterhöhlt und was sie ruiniert hatte, weil es ihre großen Entdeckungen für ungültig erklärte, sollte nun hart bestraft werden, und der Positivismus, der falsche Alliierte, fällte dieses Urteil – indem er bewies, daß die Wissenschaft in Wirklichkeit nichts zu entdecken vermag, da sie lediglich eine Aufzeichnung vonErfahrung in Kurzform ist. Der Positivismus wollte der Wissenschaft einen festen Platz zuweisen, sie gewissermaßen zwingen, ihre Ohnmacht in allen Fragen der Transzendenz zu bekennen – was ihm, wie wir wissen, jedoch nicht gelang.
    Die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte wiederholter und nicht immer gleich verlaufener Rückzüge. Zuerst versuchte sie, die endgültigen Kategorien der Welt aufzudecken, danach die absoluten Kategorien der Vernunft, wir indessen nahmen, je mehr Wissen wir speicherten, immer deutlicher ihre Hilflosigkeit wahr. Denn jeder Philosoph muß sich als absolutes Modell für die ganze Gattung, mehr noch, für sämtliche möglichen vernunftbegabten Wesen betrachten. Aber die Wissenschaft ist ja gerade die Transzendenz von Erfahrung, die die Denkkategorien von gestern zu Staub zermalmt. Gestern stürzte das Absolutum von Raum und Zeit, heute geht sozusagen die ewige Alternative zwischen analytischen und synthetischen Behauptungen – oder zwischen Determinismus und Zufall – in die Brüche. Doch irgendwie ist es noch keinem Philosophen in den Sinn gekommen, daß es, gelinde gesagt, unvorsichtig ist, aus dem eigenen Denksystem Gesetze ableiten zu wollen, die für die gesamte Menschheit vom Eolithikum bis hin zum Erlöschen der Sonnen gültig sein sollen.
    Zuerst die eigene Person als Unbekannte einer ganzen Gattungsnorm einzusetzen war, ich will es schärfer ausdrücken, unverantwortlich. Gerechtfertigt wurde dies in jedem einzelnen Falle durch den Wunsch »alles« zu verstehen, der lediglich psychologischen Wert besitzt. Und so sagt die Philosophie über die menschlichen Hoffnungen, Ängste und Begierden ja auch weit mehr als über das Wesen der – vollkommen gleichgültigen – Welt, die nur für eine Eintagsfliege in ihren Gesetzen ewig unveränderlich bleibt.
    Selbst wenn wir bereits Gesetze erkannt

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